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Melbourne.

© IMAGO

Unterwegs in Melbourne: Der griechische Chronist

Christos Tsiolkas ist Australiens Starautor, allein sein Roman „Nur eine Ohrfeige“ verkaufte sich weltweit 1,2 Millionen Mal. So multikulturell wie seine Heimat Melbourne ist keine andere Stadt des Landes. Ein Treffen.

Christos Tsiolkas erklärt den Wandel von Melbourne, indem er seine Arme ausbreitet. Denn dieses Café an der Lonsdale Street, in dem der griechischstämmige Schriftsteller gerade seinen Laptop zugeklappt hat, erzählt einen Teil der Geschichte.

Das Lokal gibt es schon lange, früher war Tsiolkas’ Vater hier oft. Verändert hat sich die Umgebung: Vor 40 Jahren wuchsen auf der gegenüberliegenden Straßenseite noch keine gläsernen Paläste in den Himmel, stattdessen drängten sich zwei- oder dreigeschossige Backsteingebäude aneinander. „Greek Precinct“, griechischer Bezirk, steht heute auf einem kleinen Schild an der Ecke, das auf Vergangenes und Vergängliches hinweist. „Chinatown“ heißt es auf dem Wegweiser daneben, der für Menschen in der Gegenwart die Richtung vorgeben soll. Das einstige Viertel der Südeuropäer ist nun in asiatischer Hand.

Aber was bedeutet so etwas schon im multikulturellen Melbourne? Vor Tsiolkas’ Café ziehen Menschen vorbei, die indischer, spanischer, schottischer Abstammung sind – oder alles zugleich. Der 49-Jährige sitzt an einem Tisch auf dem Bürgersteig – eine Plexiglasscheibe dämpft den Verkehrslärm – und erzählt, wie sich sein Vater regelmäßig im „Diethnés“ mit Freunden traf. Heute heißt das Café „International Coffee Lounge“, die blau-weiße Einrichtung erinnert zwar an das griechische Erbe, aber hinter der Theke stehen zwei chinesische Frauen. „Fake Greek“, sagt Tsiolkas, falsche Griechen, und er lacht so laut, dass man den Rückwärts-Alarm des anfahrenden Lieferwagens und das Zwitschern der Stare für einen Moment kaum noch wahrnimmt.

Die Vielfalt ist es, die Christos Tsiolkas an Melbourne mag. Hier findet er den Stoff für seine Romane, die ihn zum literarischen Superstar seines Landes gemacht haben, zu dessen vielleicht wichtigstem zeitgenössischen Autor. Der „australische Jonathan Franzen“ wird er manchmal genannt. Wie der Amerikaner Franzen, so entwirft auch Tsiolkas in seinen Büchern ein breites Gesellschaftspanorama. In seinem Roman „Nur eine Ohrfeige“ von 2008 (auf Deutsch erschienen bei Klett-Cotta) porträtierte er Australien als neurotisches Land – und als multikulturelles, multiethnisches, mit allen Vorteilen und Problemen, die das mit sich bringt. Das Buch, weltweit 1,2 Millionen Mal verkauft, diente sogar als Vorlage für eine Fernsehserie.

Christos Tsiolkas hat seine Heimat nicht immer so geliebt wie heute. Im Gegenteil: Lange hat er mit Melbourne gehadert, hat versucht, woanders zu leben und zu arbeiten, bis er sich eingestehen musste, dass diese junge Stadt auf der Südhalbkugel sein Zuhause ist. Nicht Athen, nicht London, noch nicht einmal Sydney, sondern eben die Vier-Millionen-Metropole am Yarra River.

Seine Figuren leben in den picobello eingerichteten Häusern der Mittelschicht am Stadtrand, sie haben Strandvillen in Brighton Beach und betrinken sich in den Bars der City. Oft verbringen sie ihre Tage im Wasser – Schwimmen ist eine nationale Obsession –, so wie in „Barrakuda“, Tsiolkas’ neuem Roman (ebenfalls Klett-Cotta). Das Buch handelt von einem Jungen aus armen Verhältnissen, der dank des Sports einmal ganz oben, ein „Golden Boy“ sein möchte. Von allen geliebt, von allen verehrt.

Ein bisschen ist das wohl auch Christos Tsiolkas’ Geschichte. Aber um das zu verstehen, muss man erst einmal 60 Jahre zurückgehen, nach Griechenland. Schon damals war der Mittelmeerstaat gebeutelt: Nach dem Zweiten Weltkrieg herrschte ein Bürgerkrieg im Land und bittere Armut unter der Landbevölkerung. Wer jung war, wollte weg. Amerika, das war das Traumland. Allerdings nahmen die USA nur dann Griechen auf, wenn diese Familie in den Staaten hatten.

Wohin mit der ganzen Hoffnung? Australien bot den Griechen an, die Kosten für die Überfahrt und das Visum zu übernehmen. Auf dem fünften Kontinent suchten Betriebe und Farmen händeringend Arbeiter für die aufstrebende Wirtschaft. Türken, Deutsche, Libanesen und eben besonders viele Griechen kamen. Und weil Melbourne damals das Industriezentrum des Landes war, konzentrierten sie sich vor allem hier.

1959 landete der Vater von Christos Tsiolkas in Australien, „48 Tage Überfahrt, mein Vater hatte sich bis dahin nicht vorstellen können, dass man so lange auf einem Schiff unterwegs sein konnte“, erzählt der Sohn. Vier Jahre danach kam seine Mutter, ebenfalls aus einem armen Dorf auf dem griechischen Festland. Noch Jahre später erkundigte sich Tsiolkas’ Großmutter einmal an einer Abzweigung in Griechenland – links ging es nach Athen, rechts in den Süden –, wie lange sie denn rechts mit dem Auto fahren müsste, bis sie nach Melbourne käme, wo ihre Tochter nun lebte. Aus solchen einfachen Verhältnissen stammten die Eltern des Schriftstellers.

Als Mutter und Vater sich in Melbourne kennenlernten, dachten sie natürlich daran, eines Tages nach Griechenland zurückzukehren.

Dazu kam es nie. Die Militärjunta regierte in den 60er und 70er Jahren in Griechenland, als der Vater von Christos Tsiolkas 1972 sein Heimatland besuchte, war er erschrocken über die Repressalien. So etwas kannte er aus dem demokratischen Australien nicht. „Hier will ich meine Kinder nicht aufwachsen lassen“, entschied er.

Trotzdem: Die Bezugsgröße, an der sich das Leben der Einwanderer maß, war der alte Kontinent. „Die Stadt ist nach sechs Uhr tot“, pflegte seine Mutter zu sagen, weil es in Australien nach Büroschluss keinen Menschen auf einen öffentlichen Platz drängte wie in Griechenland, um ein Glas Wein zu trinken und den Tag zu Tode zu quatschen. Die Angestellten fuhren raus in die Vororte. Wenigstens diejenigen, die es sich leisten konnten. Griechen waren in den 70er Jahren kaum darunter. Sie lebten wie Familie Tsiolkas im Bezirk Richmond, etwas östlich vom Zentrum, in geduckten Reihenhäuschen. Die Väter arbeiteten zusammen in der Autofabrik, die Kinder spielten tagsüber auf der Straße, alle redeten Griechisch und taten so, als lebten sie am anderen Ende der Welt in Europa.

Hinter dem Haus gab es einen kleinen Garten. „In Australien kannst du Arbeiter sein und einen Garten haben“, schwärmte der Vater. Tomaten, Gurken, Zucchini pflanzte er an, typisch mediterranes Gemüse. „Der Geruch von frittierten Auberginen zog durch die Straßen“, erinnert sich Christos Tsiolkas.

Englisch lernte der junge Tsiolkas erst, als er mit vier Jahren in die Vorschule kam. Als er zusammen mit den anderen Einwandererkindern aus Spanien, dem Libanon oder der Türkei die Sprache der Fremden lernen musste. Vielleicht war es dort, als ihm das erste Mal aufging, dass er anders als die Mehrheit – der protestantisch geprägte britische Teil des Landes – war. Jedenfalls lief er als Kind bei der österlichen Prozession der orthodoxen Gemeinde durch die Straßen und wunderte sich, dass die blonden, hellhäutigen Jungs aus dem Fenster schrien. „Ihr Wogs“, riefen sie, ein Schimpfwort für alle Einwanderer aus dem Mittelmeerraum. „Was zur Hölle macht ihr da?“

Im Gegenzug beschimpften die „Wogs“ die anderen australischen Jungs als „dreckig“. Weil es ihre Eltern ihnen so erzählten. „Sie sagten, dass alle Australier Kinder von Verbrechern und Vorbestraften seien. Wir provozierten die irisch- oder britischstämmigen Jungs damit, dass wir ihnen die Schande ihrer Herkunft vorhielten.“ Heute ist das alles Geschichte. Die Wogs haben sich das Wort stolz zurückerobert, und als Australier fühlen sie sich völlig gleichberechtigt neben allen anderen Ethnien.

Eine ältere Frau spricht Christos Tsiolkas und Begleitung an: „Excuse me, gentlemen“, sagt sie und will wissen, wo es zur Einkaufsmeile Collins Street geht, wo die alten Straßenbahnen an hunderten Geschäften vorbeirattern – und demnächst, so kündigen es wandhohe Plakate an, der erste H & M in Melbourne eröffnen wird. „Ganz einfach, an der ersten Ampel links runter“, antwortet Tsiolkas. Gentleman: Seinen Vater hätte niemand so genannt.

Bis in die 70er Jahre hinein kamen vor allem Einwanderer aus armen Gegenden Europas oder Anrainerstaaten des Mittelmeers hierher, danach strömten Vietnamesen, Indonesier und Thailänder nach Australien. Als die Griechen reicher wurden, zogen sie raus in die Vorstädte mit den größeren Häusern und den sattgrünen Rasenflächen. Die Asiaten besetzten die billigen Viertel neu. Und jedes Land brachte ein Stück seiner Kultur mit, daraus entstand ein sehr vielfältiges Melbourne – und eine ganz neue Mischung an Menschen. Hatte der Kellner an der Chapel Street im angesagten Stadtteil Windsor nicht gestern erzählt, dass seine Eltern aus dem Irak und Japan stammen?

Solche Geschichten erfreuen den Schriftsteller. Seine Eltern hätten sich als Kinder nie vorstellen können, Menschen anderer Glaubensrichtungen kennenzulernen. Erst ihr schulpflichtiger Sohn erklärte ihnen, was in den Häusern seiner Mitschüler passierte, zum Beispiel wenn Ramadan war.

Tsiolkas wohnt mit seinem Partner im Norden der Stadt, im gut situierten Preston – umgeben übrigens von zwei Bezirken, die von deutschen Einwanderern gegründet wurden: Coburg und Heidelberg. Wenn der Schriftsteller von seinem Haus zur Bahnhaltestelle geht, um ins Zentrum von Melbourne zu gelangen, muss er einen Hügel hinaufsteigen, und von einer bestimmten Warte aus sieht er plötzlich das Kreuz der orthodoxen Kirche, das der katholischen Kirche und den Halbmond der Moschee in einer Linie. Er grinst, als er davon erzählt. Wie einer, der einen blasphemischen Scherz gemacht hat und weiß, dass er dafür nicht bestraft wird. Es ist schwer vorstellbar, dass der junge Christos eigentlich nur wegwollte aus der Stadt, der er sich heute so verbunden fühlt. „Ich fühlte mich damals wie ein gefangenes Tier“, sagt er.

Vor allem weil die Familie in einen Vorort im Osten der Stadt zog, als er 15 war. Plötzlich war er der einzige Grieche in der Klasse, seine Körperhaare wuchsen schneller und dichter als bei den blonden Jungs, er begann sich als Außenseiter zu fühlen. Mitte der 80er Jahre flog er dann zum ersten Mal nach Athen, seine Mutter band ihm eine Krawatte für den Flug um, die er nicht abzunehmen habe – und dann kam er in dieses Land, das auch nicht seines war. Er sprach ein altmodisches Griechisch, beschwerte sich, wenn er auf dem Postamt zu lange warten musste und klopfte Punkt acht an die Tür, wenn er um 20 Uhr zum Abendessen eingeladen war. „Was bist du – ein Deutscher?“, fragten ihn die Griechen.

Vor ein paar Jahren erinnerte ihn ausgerechnet ein deutscher Film an diesen kulturellen Zwiespalt. „Gegen die Wand“ lief mit großem Erfolg in der griechischen Community. „Obwohl er von Türken in Deutschland handelte, war uns der Stoff sehr vertraut. Das Aufwachsen in einer anderen Kultur, das geteilte Ich, die unbedingte Loyalität gegenüber der Verwandtschaft und das gleichzeitig Aufbegehren gegen die Traditionen.“

Heute sagt er, sein Wunsch nach dem Mutterland sei falsch gewesen. Er hätte gar nicht weggehen müssen, denn die 80er Jahre waren eine Ära des Umbruchs. Zwar ging es wirtschaftlich bergab, einige Fabriken schlossen, doch kulturell entwickelte sich Melbourne damals stark. Besonders die Musikszene boomte. „An einem Tag spielten im Stadtteil Collingwood die Saints, eine bekannte Punkband aus Brisbane, in der City traten gleichzeitig die Go-Betweens auf, eine Rockband, und am Strand von St. Kilda konnte man Nick Cave live sehen.“ Und dann gab es natürlich Michael Hutchence, Frontmann der später phänomenal erfolgreichen Band INXS aus Sydney. „Ich weiß noch, wie ich die Band zum ersten Mal in einem Pub in Melbourne sah. Hutchence besaß schon damals ein Charisma, nicht weil er besonders gut aussah, sondern weil er sich wie eine Schlange zu bewegen wusste.“

Tsiolkas zeigt auf ein Lokal nebenan, das „Stalactites“ heißt und wo eben künstliche Stalaktiken von der Decke hängen, „diese Bar hatte damals als eines der wenigen Lokale eine 24-Stunden-Lizenz“, erzählt er. Da trafen sich nach den Exzessen die Punks, Transvestiten, Studenten und New-Wave-Kids, um mit einem Souvlaki den Alkohol etwas zu neutralisieren. „Melbourne kam plötzlich in der Gegenwart an“, sagt Christos Tsiolkas über diese wilde Zeit.

Zur selben Zeit begann er, zurückgekehrt aus Europa, ein Politik- und Geschichtsstudium an der University of Melbourne. Nicht nur kam er jetzt mit völlig neuen Auffassungen in Berührung, „zum ersten Mal sah ich auch das wohlhabende Melbourne“. Wie sein Protagonist in „Barrakuda“ erhielt er auf einmal Einladungen von Mitstudenten in die Villen am Strand, die ihm früher verwehrt waren. Er erinnert sich, dass er das erste Mal bei einem Kommilitonen in Brighton Beach zu Besuch war, im Süden der Stadt, wo die Reichen und Schönen wohnten, die „Golden Girls and Boys“, und er sich aus Nervosität so schnell betrank, dass er kaum mehr gehen konnte.

Die 90er Jahre verbrachte er in Fitzroy, dem Künstlerviertel der Stadt, in besetzten Häusern und Wohngemeinschaften. „Kleine Zimmer, günstige Mieten.“ Er erlebte mit, wie die Innenstadt sich wieder belebte, plötzlich City-Lagen begehrt wurden und die Mieten anstiegen. Wie die Griechen aus dem Zentrum verschwanden und in die Mittelschicht aufstiegen. Heute feiern sie ihre Geschichte noch ein Mal im Jahr, am Unabhängigkeitstag, mit einem großen Volksfest. „Kitschig“ sei das, findet Christos Tsiolkas, hauptsächlich gebe es Fressbuden, doch seine asiatischstämmigen Freunde liebten es, auf dieses Straßenfest zu gehen.

Damit sind wir angekommen in der Gegenwart. In einem bürgerlichen Leben, von dem der junge Christos nie zu träumen gewagt hätte. In dem er nach St. Kilda hinausfährt, an den Strand geht und weiter südlich in der Half Moon Bay schwimmt. In dem er die neuen Museumskuben am Federation Square besucht und sich die zeitgenössische Malerei Australiens anschaut.

Und in dem er zum Studley Park zurückkehrt, wenn er einen Schuss Nostalgie braucht. Dann geht er zur rostroten Hängebrücke im Park, nahe dem Yarra River, stellt sich mit dem Rücken zur Stadtsilhouette und schaut auf das Grün der Bäume. Blickt hinunter aufs Wasser und erinnert sich an den Jungen, der vor 40 Jahren an derselben Stelle stand, Kieselsteine ins Wasser warf und zuschaute, wie sich daraus Kreise an der Oberfläche formten. Wenn er diesem Jungen etwas sagen müsste, Tsiolkas würde ihm ins Ohr flüstern: Christos, bleib in Melbourne, es lohnt sich.

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