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Maral im Werra-Tal hat Schwimmen gelernt und dass man Schwierigkeiten überwinden kann.

© O. Schäfer

Vater-Tochter-Tandem: Und hinten sitzt Maral

Tandemfahren ist kompliziert. Erst recht mit einer autistischen Beifahrerin. Würde die Tochter reagieren, wenn der Vater „bremsen!“ schreit?

Es war lange nicht möglich, mit Maral spazieren zu gehen. Nicht nur, dass ihre Muskulatur und ihre Körperspannung sehr schwach waren. Die Umwelt war so faszinierend für sie, dass sie einfach nicht vorankam, sondern am Muster von Gehwegplatten etc. „hängenblieb“.

So war es, als Maral klein war, so hat es ihr Vater in seinem Reisetagebuch notiert, und dass das heute ganz anders ist, liegt höchstwahrscheinlich auch an den darin beschriebenen acht Fahrradtouren, die er mit ihr gemacht hat. Tausende Kilometer kreuz und quer durch Deutschland und über die Grenzen hinaus. Olaf Schäfer vorn auf einem Tandem, hinten Tochter Maral, stupsnasig, dunkelhaarig. Autistin.

Eine Tandemtour gilt ohnehin als zwischenmenschliche Herausforderung, das Fahren muss abgestimmt werden, einer gibt den Takt vor, einer folgt. Das passt nicht für alle Teams. Und das mit einer Autistin? Einem Menschen, der anders ist, betreuungsintensiv

unselbstständig, zu extremer Eigensinnigkeit befähigt und zur totalen Rücksichtslosigkeit?

Olaf Schäfer lacht. Er sitzt in einem Café in Neukölln, auf halbem Weg zwischen Arbeit und Zuhause. Schäfer ist Lehrer und ein leidenschaftlicher Ausdauersportler, schon immer gewesen, mit Radtouren bis rauf nach Norwegen in der Jugend. Bewegung gehört für ihn zum Leben – wie die Tochter. Warum nicht wenigstens versuchen, beides auf einem Doppelrad zu verbinden? Immer mit der Option Abbruch, falls das Kind nicht mehr kann.

Das war die Basis, auf der sie am 20. Juli 2009 starteten. Da war Maral acht Jahre alt. Erst mal ging es mit dem Zug von Berlin nach Hessen, zu Schäfers Eltern, zwei Tage Pause, dann weiter zur Etappe 1 auf dem Europaradweg R1.

"Oh, was isst das Kind denn da?"

„Maral liebt es, schnell zu fahren“, notiert Schäfer in sein Reisetagebuch, sie mache sich keine Gedanken über Traktoren und die Kühe, die unverhofft aus einer Einfahrt auftauchen könnten, über platzende Reifen oder brechende Rahmen. Anders der Vater. Vier Bremsen hat das fast drei Meter lange Doppelrad, zwei vorn, zwei hinten, aber würde Maral zupacken, wenn er „bremsen!“ schreit?

Schäfer hat das Gefährt gebraucht bei Ebay gekauft, 220 Euro, ein Modell aus den 1980er Jahren, wie er schätzt. Er hat einiges daran erneuert und dabei eine Ahnung davon bekommen, dass der Satz „Auf Tour ist man sein eigener Handwerker“ von tiefer Wahrheit ist.

Vater und Tochter fahren auf schönen Radwegen an Bauernhöfen und Städtchen vorbei. Die Übernachtungen sucht Schäfer immer erst vor Ort. In Stadtlohn im Münsterland ist es eine kleine Pension, und abends gibt es Pommes „Bei Manni“, denn außer Pommes isst Maral nicht viel, und wenn, muss es püriert sein. Im Gepäck ist also ein Pürierstab.

Zwischenzeitlich habe Maral mal eine blaue Phase gehabt, erzählt Schäfer. Da habe er ihr Essen erst püriert und dann noch blaue Lebensmittelfarbe reingekippt. Da seien die Leute neugierig zu ihrem Tisch gekommen und hätten „Oh, was isst das Kind denn da?“ gefragt. Es sei überhaupt immer wieder zu schönen, überraschenden Begegnungen gekommen. Auch wegen Maral. Weil sie anders auf die Leute schaut, schauen die Leute anders zurück. Wenn sie etwa sage: „Entschuldigen Sie, ich bin Autistin, ich gebe keine Hand, aber ich freue mich trotzdem, dass Sie da sind“, seien die Menschen entzückt.

Am dritten Tag der Tour plagt Maral der Po

Die erste lange Strecke geht von Stadtlohn nach Münster. 85 Kilometer. Das ist viel – ohnehin. Für ein Kind erst recht. Schäfer macht viele Pausen, reicht Kekse, Wasser und achtet auf die Stimmung auf dem hinteren Sattel.

Auf einem Tandem heißt der Vornsitzer „Captain“, der hinten ist der „Stoker“, der Heizer. Der vorne lenkt, der hinten strampelt, der vorne sieht, was kommt, der hinten muss den Lenkimpuls unterdrücken und kann nach links und rechts schauen. Schäfer sagt, für Autisten sei der Platz hinten perfekt, weil sie nicht so gern Blickkontakt haben.

Am dritten Tag der Tour plagt Maral der Po. „Kurz vor Detmold schimpft sie über den ,Scheiß-Sattel‘ und macht sich Gedanken, ob man das sagen darf“, steht im Tagebuch. Die nächsten 40 Kilometer aber hält sie durch. Ihren Vater kann sie damit beeindrucken, denn eigentlich können Autisten sie überkommende Eindrücke nur schlecht verdrängen. Ein tapferes Kind, notiert er.

Der wunde Po führt zum ersten Ruhetag, danach geht es in vier Etappen Richtung Harz, rein ins Hügelige. Für Schäfer wird es anstrengend. Er fängt an, über 14-Gänge-Schaltungen von Rohloff und Scheibenbremsen von Magura nachzudenken. Das mit Mensch und Gepäck beladene Rad schätzt er auf 200 Kilogramm. Was bergauf eine Muskelstrapaze ist, ist auch bergab kein reines Vergnügen mehr. Einmal fliegt auf einer rasenden Abfahrt über Schotter eine Satteltasche ab. Ein anderes Mal geraten sie hinter einer Kurve in ein Schlammloch, was das ganze Gefährt in Schwingungen versetzt. Schäfer bietet alle Kraft auf, einen Sturz zu verhindern. Und Maral? Die sitzt hinten und plappert vor sich hin, völlig unbeeindruckt.

Es ist immer eine Abwägung, was man seinen Kindern "zumutet"

Auf Rad-Kur. Acht Touren durch Deutschland haben Vater und Tochter absolviert.
Auf Rad-Kur. Acht Touren durch Deutschland haben Vater und Tochter absolviert.

© O. Schäfer

Manchmal, notiert Schäfer, nerve ihn das Geplapper, wenn es bergauf geht, regnet, doch er weiß auch, sie kann nicht anders. Auch sonst beobachtet er sie genau: Verlangt er zu viel? Kommt sie klar, wenn sie lange nach einem Zimmer suchen müssen, wenn hinter der nächsten Kurve immer noch kein Dorf in Sicht ist, es keine Pommes gibt? „Es ist immer eine Abwägung, was man seinen Kindern ,zumutet‘ “, schreibt er ins Reisetagebuch. „Ich denke aber, dass die Abenteuer, die wir erleben, sie weiterbringen – körperlich und geistig.“

Dass dem so ist, erfährt er am Ende der ersten Tour, die das Duo von Wernigerode im Harz dann noch über Wittenberg und Brück zurück nach Berlin führt. Maral sei kräftiger geworden, stellte der Vater fest, habe gelernt, dass Schwierigkeiten überwunden werden können. So starten sie im folgenden Jahr zur zweiten großen Tour.

Wieder erst mit der Bahn zu den Großeltern in Hessen und von dort in 18 Etappen Richtung Norden bis Cuxhaven. 1500 Kilometer. Erst Berge, dann Gegenwind. „Wind ist ein wichtiger Faktor bei einer Radtour“, steht im Reisetagebuch, „ebenso der Untergrund. Kies kostet fünf Kilometer pro Stunde.“ Doch sie fahren nicht gegen die Uhr. Sie fahren für sich. Am Ende der zweiten Fahrt steht die Gewissheit: Machen wir wieder, aber mit einem anderen Rad!

Also schieben sie ein Jahr später, im Juli 2011, ein brandneues, feuerrotes Tandem mit hydraulischen Scheibenbremsen, mit Rohloff-Schaltung, angepassten Satteltaschen in Gelb und Ledersätteln von Brooks in die Regionalbahn nach Elsterwerda. Tour Nummer 3 führt zunächst durch den Osten des Landes. Bad Schandau – Dresden – Riesa.

Maral will immer wieder dasselbe Märchen hören

Erneut Po-Schmerzen. Die Ledersättel müssen erst eingefahren werden, das erfordert genau die gedankliche Abstraktion – jetzt leiden, später genießen –, zu der Maral nicht in der Lage ist. Es gibt Zoff. Dann sind auch noch alle Dorfgasthöfe ausgebucht, weil Stadtfeste oder Hochzeiten stattfinden, und sie müssen weiterfahren. Schäfer lobt und lobt seine Tochter, die so tapfer sei und das alles aushalte, und plötzlich kippt bei ihr der Schalter um: Sie ist gut drauf, lobt sich nun selbst. „Es ist schon interessant, wie die Psychologie bei so etwas mitspielt“, schreibt Schäfer ins Reisetagebuch.

Torgau – Wittenberg – Dessau – Magdeburg. Maral will immer wieder dasselbe Märchen hören: von einer unfähigen Mutter und neun behinderten Kindern. Maral möchte nicht, dass der Vater die ganze Geschichte verrät. Ihre Art, ihr Leben zu beleuchten. Schäfer erfährt etwas über seine Tochter und sie hält aus, was Autisten selten können, dass sich Orte und Anforderungen dauernd ändern.

Schäfer beobachtet außer seiner Tochter auch das Rad, die Getreidestände, Wind und Wetter, und ihm fällt auf, dass die Schmetterlinge weniger werden.

Es geht über die Elbe und dann von Gorleben über Hamburg, Elmshorn, Cuxhaven, Glückstadt nach Wedel. 900 Kilometer, was Maral betrübt – sie hätte gern 1000 gemacht. Zahlen sind wichtig für Autisten. Maral kann zu Geburtstagsdaten in Windeseile den Wochentag ermitteln.

Manchmal denkt er, sie könnte vielleicht etwas anderes machen

Tour 4 führt durchs Zittauer Gebirge. Tour 5 von Darmstadt bis Salzburg und Bad Reichenhall. Tour 6 von Kehlheim, an Schaffhausen vorbei, bis Basel nach Karlsruhe. Tour 7 von Trier über Eisenach nach Leipzig, Wittenberg, Berlin. Und Tour 8 im vergangenen Jahr von Bamberg über Rotenburg an der Fulda und Bad Salzungen nach Saalfeld.

Mit jeder Tour wurde Maral aktiver. Sie hat Schwimmen gelernt und immer ein bisschen mehr in die Pedale getreten („hilft tüchtig mit“, schreibt der Vater). Sie hat Fremde angesprochen, einer alten Frau durch beherztes Zupacken in den Zug geholfen, hat freiwillig Flammkuchen gegessen und gelernt, ihr Jugendherbergsbett selbst zu beziehen. Sie ist vom kleinen Mädchen zum hübschen Teenager geworden, vom Vorschulkind zur Gymnasiastin.

Ob es so weitergeht? Weiß der Vater nicht. Manchmal denkt er, sie könnte vielleicht etwas anderes machen, etwas allein sogar. Sie ist ja kein Kind mehr. Er greift zum Mobiltelefon. „Maral!“, ruft er, als sie abnimmt: „Was meinst du, machen wir im Sommer wieder eine Radtour?“ „Ja“, schallt es prompt aus dem Gerät.

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