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Freude sieht anders aus. Unser Autor kurz vor der Pensionierung.

© Thorsten Wulff

Vorabdruck: Hilfe, ich darf in Rente

Endlich Ruhestand, endlich raus aus der Mühle! Das erschien Thomas Hecker in all den Jahren, die er im Büro verbrachte, wie eine Verheißung. Doch als der Tag da war, kam die Panik.

Hecker hatte sich vor diesem Tag gefürchtet. Aber dass es so schlimm kommen würde, das hatte er nicht geahnt. Es war im März gewesen, als er bei der Deutschen Rentenversicherung angerufen hatte. In ein paar Monaten würde er seinen 65. Geburtstag feiern, Zeit, sich endlich darüber zu informieren, was da auf ihn zukam. Rente. Thomas Hecker hatte sich bisher nicht darum gekümmert, also bat er um einen Termin für ein Beratungsgespräch.

„Na, wann ist es denn bei Ihnen so weit?“, hatte der Mann am Telefon gefragt mit jener Servicefreundlichkeit, die in den vergangenen Jahren die Behörden ergriffen hatte. „In einem guten halben Jahr, glaube ich“, hatte Hecker geantwortet. „Dann können Sie doch gleich Ihren Rentenantrag stellen, wenn Sie schon mal bei uns sind“, sagte der Mann und versprach, er werde Hecker in den nächsten Tagen einen Brief zugehen lassen mit einer Liste aller jener Dokumente, die für ein reibungsloses Ausfüllen des Rentenantrags unabdingbar seien, er betonte: unabdingbar.

Hecker hatte sein ganzes Leben ungern Listen abgearbeitet. Aber in der Unordnung seiner Aktenordner fand er dann doch das unabdingbar Benötigte: Sozialversicherungsnummer, Steueridentifikationsnummer, Iban-, Bic- und Kontonummer, Krankenversicherungsnummer, Schul- und Hochschulzeugnisse. Das, beruhigte er sich, werde wohl reichen für einen Antrag, der ihn in jeder Hinsicht auf neues Terrain führen würde.

Hecker lebte seit 15 Jahren in Berlin. War von Süddeutschland hierhergezogen, der Arbeit wegen, und war in all den Jahren heimisch geworden. Aber wo sich das Gebäude der Deutschen Rentenversicherung befand, hatte er bis dahin nicht gewusst. Er musste die Straße erst umständlich suchen, die Gegend war ihm gänzlich unbekannt.

Kaum hatte er das Gebäude betreten, fühlte er ein Unwohlsein. Hecker kannte dieses Gefühl beim Betreten einer Behörde seit Jahrzehnten, vermutlich eine Behördenphobie, doch diesmal war es mehr, ihn bedrängte das Gefühl der Endgültigkeit: Dann können Sie doch gleich Ihren Rentenantrag stellen!

Jetzt war er also gekommen, dieser Moment, er würde ein Formular unterschreiben. Und diese Unterschrift besiegelte etwas. Das Ende seines Arbeitslebens. Hecker mochte das Wort „besiegeln“ nicht. Öffnen hatte er immer besser gefunden als schließen.

So war es keine geringe Last, die Hecker an einem sonnigen Vorfrühlingstag in den vierten Stock schleppte, wo er einen Anmeldetresen vorfand sowie die Aufforderung, sich zu gedulden. Hecker sah sich um, ein großer Warteraum, Zimmerpflanzen in schwarzen Kübeln, grauer Filzboden, graue Vorhänge, braune Stuhlreihen. Geriatrische Farben, dachte er mit einem unpassenden Anflug einer Heiterkeit, eines kleinen Lachens in die eigene Brust hinein, und setzte sich auf einen der braunen Stühle.

Dann passierte es. Er sah die Gesichter, sah diese Körper, Hecker sah die Menschen neben, vor und hinter sich, die auf den Stühlen saßen. An die 40 mochten es sein, hauptsächlich Männer. Er sah Müdigkeit, Erschöpfung, Missmut. Er sah Gesichter, die er verlebt fand, zu Ende gelebt. Augen, die nicht blickten. Köpfe, die sich nicht aufrecht hielten. Hecker sah: das Alter. Und Hecker sah: Das bin ich.

Noch nie hatte er eine so unmittelbare, so schonungslose Begegnung mit seinem eigenen Alter erlebt wie in diesem Moment. In ihm war keine Solidarität, kein Gemeinschaftsgefühl, er fühlte im Gegenteil einen Unmut in sich hochsteigen, eine Übellaunigkeit. Ich bin nicht so wie die, knurrte er, ich werde 65, aber ich bin nicht alt, nicht so alt wie die. Beigefarbene Blousonjacken. Pullis aus dem vergangenen Jahrtausend. Großvaterschuhe, Marke „Mephisto“.

Allenthalben schien Hecker jetzt Zeichen der Verwahrlosung bei den Wartenden wahrzunehmen. Rasiert euch!, donnerte seine innere Stimme. Lächelt! Haltet euch gerade! Niemand hörte ihn. Seine eigene Stimme drehte sich in seinem Kopf wie in einer Endlosschleife und wollte sich nicht beruhigen. Du bist wie sie. Du unterscheidest dich nicht.

Dann ertönte eine andere Stimme. Sie kam aus einem Lautsprecher. „Herr Thomas Hecker, bitte Zimmer 423.“ Er erhob sich, klemmte sich die Klarsichtmappen mit den unabdingbar benötigten Dokumenten fest unter den Arm, umrundete mit feindseligen Blicken seine Alters- und Leidensgenossen.

Als er die Tür von Zimmer 423 öffnete, war Hecker besänftigt. Ihn begrüßte eine blonde Dame in den Vierzigern, die ein Schild auf ihrem Schreibtisch als Frau Klausen auswies. Frau Klausen begegnete Herrn Hecker mit der größten Wohltat, die man einem in einer solchen Situation gewähren kann – mit der Wohltat der seit langem geübten Routine.

Sie fragte sachlich und beharrlich nach Rentenlaufzeiten, Bankverbindungen, Steueridentifikationsnummern – und Hecker wurde klar, dass es um weitere Identifikationen hier nicht mehr ging. Also sagte er auf Frau Klausens Fragen ungerührt „Ja“ und „Nein“ und am häufigsten „Weiß nicht“, worauf Henriette Klausen die Augenbrauen hob und einen Eintrag in das Computerformular machte, das Hecker nicht sehen konnte.

Frau Klausen war am Ende durchaus zufrieden mit ihm. Hecker reichte Dokument um Dokument über den Schreibtisch in die vernünftigen Hände der Sachbearbeiterin. Langsam begann sich seine Behördenbeklemmung zu legen, und am Ende unterzeichnete er in vollkommener Nüchternheit das Papier, das Frau Klausen ausgedruckt hatte. Rentenantrag. Und er hat gar nicht gebohrt, schoss es Hecker durch den Kopf.

Ausgerechnet jetzt dieser dümmliche Satz! Man hat sich nicht unter Kontrolle, dachte Hecker. Das Gehirn spielt einem Streiche. Er hatte von sich wahrlich etwas anderes erwartet als diesen peinlichen Zahnarzt-Satz. Etwas Erhabeneres, etwas, das von Größe zeugte oder meinetwegen auch von Verzagtheit, dachte er. Jedenfalls etwas, das dem Ernst dieses Moments entsprach. Schließlich hatte er eine Unterschrift geleistet, die sein Leben von Grund auf verändern würde. Rente. Ruhestand. Auch wenn es noch mehr als ein halbes Jahr hin war.

Andererseits, überlegte er, war die Banalität des Satzes vom Bohren womöglich angemessen angesichts der Banalität dieser Situation. Er hatte genau das getan, was die meisten zu tun gezwungen waren, wenn sie sich den 65 näherten. Das war nichts Erhabenes. Das war nur der Lauf des Lebens.

Hecker erhob sich, verließ Zimmer 423, ging zurück zum Wartesaal, nahm nicht den Fahrstuhl, sondern die Treppe, weil er das Gefühl hatte, er müsse sich jetzt dringend bewegen. Was war nur in ihm vorgegangen? Dieser irritierende Ausbruch von Zorn, als er seine Altersgenossen ansah. Und Hecker, in einem Moment der plötzlichen Selbsterkenntnis, dachte: Angst. Ja, das musste es gewesen sein. Angst, als er seinem Alter in die Augen blickte. Angst vor der Begegnung mit seiner Wirklichkeit. Er schüttelte sich, als könnte er sich zurückverwandeln in jene Person, für die er sich all die Jahre gehalten hatte: kein junger Mann mehr, aber doch kein alter. Die Verwandlung wollte ihm nicht gelingen. Jetzt nicht. Er hatte einen Antrag unterschrieben.

Hecker haderte mit sich. Maulte, schimpfte. Den Rest des Tages und den Abend über auch. Was war das nur für eine Vorstellung ganz besonderer Wehleidigkeit, die er im Rentenamt hingelegt hatte! Auch jetzt, Stunden später, drängte sich immer wieder eine Frage in seinem Kopf nach vorne: Ob das mit der Jugendlichkeit oder, besser gesagt, dem Noch- nicht-ganz-so-alt-Sein wirklich nichts als Anmaßung war? Ob es nicht doch einen Grund dafür gab? Nur einen kleinen, dachte Hecker, von mir aus einen winzig kleinen. Aber eben doch einen Unterschied zwischen seinem alten Gesicht und den uralten Gesichtern der anderen. Es waren geradezu flehentliche Gedanken, die in Heckers Kopf kreisten.

Natürlich hatte auch er seine Alterserfahrungen gemacht, nicht erst jetzt mit seinen 64 Jahren, auch in den Jahren zuvor waren die Zeichen nicht zu übersehen gewesen. Die körperlichen zumal, obwohl er sich sein Leben lang einer robusten Gesundheit erfreut hatte. Immer öfter wurde er neuerdings von einer ungewohnten Müdigkeit überfallen, sein Rücken plagte ihn schon seit langem. Und neulich erst hatte er sich einen Leistenbruch operieren lassen müssen, Altmännerkrankheit, spottete Hecker, morsches Gewebe. Spott, fand Hecker, war ein gutes Mittel gegen die Morschheit.

Schlimmer war es im Jahr zuvor gekommen, als er mit seiner Frau in den Dolomiten war. Hecker war in jungen Jahren ein unermüdlicher Bergsteiger gewesen. Kein großer Kletterer, da hatte er es nie über den vierten Schwierigkeitsgrad hinaus geschafft, aber die langen Gletschertouren in der Schweiz, in Österreich, die waren seine Spezialität gewesen. Jeden Sommer war er mit Freunden in die Berge gezogen und ihnen stets ein Ärgernis gewesen: weil er alle übertrumpfen wollte mit seiner offenbar unbegrenzten Kondition.

Natürlich war die Sache mit dem Konditionswunder inzwischen längst vorüber. Also verließ Hecker, was er nicht gerne tat, die Steilwände und wurde ein älterer Herr, der die Berge auf gemächlichen Wegen durchwanderte. Aber, und darauf bestand er, jedes Jahr, zumindest eine Woche, sollte es diese kleinen Vergegenwärtigungen seiner Jugend noch geben. Er ging die Wege, die nun Wanderwege waren, mit einer Begeisterung, die dadurch geschmälert wurde, dass es eben Wanderwege waren.

In Rente: Der größte Einschnitt unseres Lebens
In Rente: Der größte Einschnitt unseres Lebens

© Verlag

Bis diese Sache in den Dolomiten geschah. Es war ein sonniger Oktobertag, wie er für Wanderungen nicht schöner sein konnte. Aber etwas stimmte nicht. Hecker hatte es schon nach wenigen Minuten bemerkt. Die Beine wollten nicht laufen, wie sie immer gelaufen waren, die Schritte fielen ihm schwer, und seine Frau, Franziska, blieb stehen, immer wieder, bis der Ehemann endlich angetrottet kam. Hecker hatte Krämpfe in den Beinen, Schmerzen in den Muskeln und war doch kaum zwei Stunden unterwegs. Noch nie hatte er so etwas erlebt.

Er schleppte sich mit brennenden Muskeln und knapper Not zur nächsten Berghütte und wachte am anderen Morgen in einem Zustand der Unbeweglichkeit auf. Kein Problem, hieß es, man sei hier kaum 20 Minuten von einer Sesselliftstation entfernt, von der man ins Tal fahren könne. Hecker bedankte sich höflich, bis zum Sessellift brauchte er zwei Stunden.

Die folgenden Tage verbrachte er mürrisch im Hotel, humpelte durch die Flure und behandelte die schmerzenden Waden und Oberschenkel mit einem duftenden Öl, Latschenkiefer-Extrakt, probates Mittel für solche Fälle, hatte die fürsorgliche Dame an der Rezeption gesagt. Man habe Erfahrung mit dergleichen, hier im Dolomiten-Wandergebiet. „Unsere Senioren“, sagte sie, „übernehmen sich gerne mal.“ Das Wort stand im Raum wie ein Gespenst: Senioren.

Der Text ist ein stark gekürzter Vorabdruck aus: Wolfgang Prosinger, „In Rente“, Rowohlt Verlag, 240 Seiten, 19,95 Euro. Das Buch erscheint am 7. März

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