zum Hauptinhalt
Ein Alien in den Bergen. Japaner fotografieren sich mit einer seltenen Spezies – einer europäischen Wanderin – in den Japanischen Alpen.

© Frenzel

Wandern in den Japanischen Alpen: Richtig Miso gelaunt

Kita-dake, Ai-no-dake: Das Wandern ist des Japaners Lust, erst in den Bergen lernt man ihn kennen. Unsere Autorin packte ihren Rucksack – und wurde selbst zur Attraktion.

"Breeeak-faaaast!“ Die Stimme war leise und hoch, und für einen Moment glaubte ich, sie sei Teil eines Traums. Dann hörte ich das Rascheln von Plastiktüten, tosenden Wind, Murmeln in einer anderen Sprache. Japanisch. Das war kein Traum. Im Schein der Stirnlampe sah ich das runzlige Gesicht des alten Mannes, der mich aus dem Schlaf geholt hatte. Er lächelte, offenbar hatte er es schon eine Weile versucht.

Ich lag in einer kleinen Hütte, auf einem Felsvorsprung unter dem höchsten Gipfel der Japanischen Alpen, dem Kita-dake, 3192 Meter hoch, nach dem Fuji der höchste Berg des Landes. Um mich herum wühlten etwa 100 Japaner in Rucksäcken. Eigentlich tasteten sie vorsichtig, alle eine Stirnlampe auf dem Kopf, um keinen Lärm zu machen, so wenig Raum wie möglich einzunehmen.

Bis auf die umherstreifenden Kegel der Lampen war es stockdunkel. Ich lag auf einem dünnen Futon, den ich am Vorabend auf den harten Holzdielen ausgerollt hatte, über mir stapelten sich vier Plastikdecken. Ich fror und suchte nach meinem Handy. Kurz vor fünf Uhr. In zehn Minuten würde die Sonne aufgehen. Und wenn wir Glück hatten, würden wir den Fuji sehen. Vor der aufgehenden Sonne.

Der perfekte Vulkan

Der Blick auf den Fuji war einer der beiden Gründe, wieso ich hier war. Ich wollte diesen perfekten Vulkan sehen, dessen abgebrochene fast 4000 Meter hohe Spitze sich oft hinter Wolken versteckte. Der Fuji sei scheu, sagte man. Wie die Japaner. Sie waren der eigentliche Grund, wieso ich frierend in dieser Hütte lag.

Seit einer Woche war ich im Land. Ich wollte Japaner kennenlernen, mir diese so verschlossene Gesellschaft wenigstens ein bisschen erschließen. Doch wenn ich Menschen ansprach, kicherten sie nur oder wandten sich nach zwei Sätzen von mir ab, dabei waren sie immer wahnsinnig höflich. Ausländer, „Gaijin“, schienen für sie eher Außerirdische denn Menschen zu sein.

Irgendwann ging ich dazu über, jeden Japaner, mit dem ich einen Satz gewechselt hatte, zu fragen, was sie unbedingt in ihrem Land sehen möchten. Nachdem fünf von zehn kichernd antworteten, sie würden in die Japanischen Alpen fahren, um den Fuji vom Kita-dake zu sehen, kaufte ich mir zwei Wanderbücher. Dort stand tatsächlich, die Alpen seien ein idealer Ort, um den Einheimischen näher zu kommen. Außerdem hieß es, Wandern sei in Japan ein ähnlich populärer Volkssport wie in Deutschland.

Glöckchen gegen Bären

Also war ich mit dem Schnellzug Shinkansen von Tokio nach Süden gerast und in Kofu ausgestiegen, einer gesichtslosen Großstadt. Dort war ich um drei Uhr morgens aufgestanden, um den Bus nach Hirogawara zu erwischen, einem Informationszentrum, wo ich drei Stunden später an der Seite von mehr als 100 Japanern zum Kita-dake steigen würde.

Fast 2000 Meter quälte ich mich in die Höhe, trotz der vielen Menschen in absoluter Stille, begleitet nur von einem leisen Läuten. Es stammte von Glöckchen, die alle außer mir am Rucksack trugen, und Bären abschrecken sollten. In der kargen Hütte setzte ich mich auf eine schmale Holzbank vor einem Ofen, in dem ein mickriges Feuer brannte. Ich hoffte, endlich ins Gespräch zu kommen.

Am Ende saß ich neben drei jungen Amerikanern, die in der Nähe von Tokio auf einer Militärbasis stationiert waren, und wir sprachen darüber, wie freundlich die Japaner waren, selbst wenn sie erklärten, dass Ausländer jenes Restaurant nicht betreten dürften. Wir gingen vom Bier zum Whiskey über, als plötzlich ein Mann neben uns stand und flüstertete, wir müssten nun ins Bett gehen. Hüttenruhe. Es war halb neun.

Mit Kerouac durch die Nacht

Die halbe Nacht lag ich wach, spürte den Holzdielen unter dem Futon nach und las „Gammler, Zen und hohe Berge“ von Jack Kerouac. Ein Freund hatte es mir empfohlen. Beatnik Kerouac wandert darin mit einem in Japan geschulten Zen-Buddhisten zu einsamen kalifornischen Gipfeln. Als meine Augen vom Lesen brannten, lauschte ich angespannt in die Stille. Regnete es? Die Wettervorhersage hatte Regen angesagt.

Es war elf, als ich das erste Mal den Berg Plastikdecken von mir schob, der mich nicht wärmte, hinausschlich, vorbei an den Japanern, die friedlich und unbeweglich, aufgereiht wie Mumien auf ihren Futons schliefen. Draußen toste der Wind und im dichten Nebel konnte ich nicht mal das Toilettenhäuschen sehen, das zehn Meter weg war.

Um drei hatte ich das letzte Mal auf die Uhr geschaut. Jetzt, um fünf, hätte ich schlafen können. Aber die Kegel der Stirnlampen kreisten über mir, und die Freundlichkeit im runzligen Gesicht des alten Mannes wich Unverständnis. Um mich herum stapelten sich perfekt gefaltete Plastikdeckenberge neben sorgfältig gerollten Futons. Unwillig zog ich mich unter der Decke an. Um mein Gesicht zu waschen, musste ich vor die Tür, vorbei an hundert im Schneidersitz Misosuppe schlürfenden Japanern.

Euphorisches Grinsen

Draußen waren es bestimmt unter null Grad. Der Morgen graute. Immerhin war der Nebel verschwunden. Ich blickte nach Nordwesten. Und da ragte er auf. Schemenhaft, aber unverkennbar. Der Fuji. Der perfekte Vulkan. Wie aus einem Kinderbuch. Und hinter ihm ging tatsächlich die Sonne auf.

Zwei Stunden später erreichte ich den Gipfel, meine Misosuppe hatte ich allein geschlürft, der Fuji ragte noch immer aus der Wolkendecke. Plötzlich war ich von einem Dutzend Japanern in knallfarbigen Hightech-Trekking-Klamotten umringt, die sich mit mir fotografieren wollten. Euphorisch grinste ich in Kameras. Einige fragten, woher ich käme. Dann stiegen sie freundlich lächelnd hinab, Richtung Hirogawara, zurück in die Stadt.

Gipfel auf den Karten

Nur eine kleine, ältere Dame blieb ein paar Minuten stehen. Mit ausgestrecktem Zeigefinger drehte sie sich neben mir im Kreis, und murmelte auf Japanisch. Ich meinte die Namen von Gipfeln zu verstehen, also holte ich meine Karte hervor. Die alte Dame lächelte. Gemeinsam beugten wir uns über das Papier, ich folgte ihrem Zeigefinger von den Zeichen auf der Karte zu den Gipfeln.

Ich erklärte, dass ich dem Hauptkamm der nördlichen Alpen folgen wollte, Richtung Südwesten, den Fuji im Blick, dass ich den Naka-shiramine besteigen wollte und den Ai-no- Dake. Sie ließ ihren Finger von der Karte in die Berge gleiten, drehte sich einmal im Kreis, verbeugte sich leicht und stieg hinab, Richtung Nordwesten.

Ein Sartori, bitte!

Vor den Hütten können Mutige auch zelten, nachts wird es jedoch ungemütlich kalt und windig.
Vor den Hütten können Mutige auch zelten, nachts wird es jedoch ungemütlich kalt und windig.

© Frenzel

Ich war die einzige, die nach Südwesten wanderte. Wenn schon kein Gespräch, dann zumindest ein Satori? Eines dieser japanischen Erweckungserlebnisse, die Kerouac in seinem Buch beschrieb, als spontane Zen-Meditation, wenn die Gedanken zum Stillstand kommen, der Verstand abschaltet.

Ich hatte auch gelesen, dass die besten Haiku-Dichter Wanderer waren. Haikus sind dreizeilige Gedichte, die vom Verfasser erlebte Satoris beschreiben. Sie sollen nicht aus dem Japanischen zu übersetzen sein. Eines meiner Wanderbücher versuchte es trotzdem: „Ein Frosch springt/ in einen Teich –/ Platsch!“

Acht Uhr morgens, der Kita-dake lag eine Stunde hinter mir, begann es zu nieseln. Fünf Minuten später regnete es in Strömen, ich konnte nicht erkennen, was wenige Meter vor mir lag. Die nächste Hütte war laut Wanderführer sieben Stunden entfernt. Dazwischen lagen zwei Dreitausender, der Naka-shiramine und der Aino-dake. Ich kaute eine Weile auf einem zähen Schokoriegel herum und beschloss, weiterzuwandern.

Kaltes Gemüse

Von den beiden Gipfeln sah ich nur die Vermessungssäulen, und zwar erst, als ich einen Meter vor ihnen stand. Gegen drei Uhr blies der Wind die lästigen Wolken vom Grat. Die Sonne kam heraus, sofort wurde mir warm. Ich zog trockene Sachen an, legte mich auf ein Handtuch und schlief ein. Als ich aufwachte, war es fünf.

Die Hütte, sie lag auf dem Grat in einer von Tannen bewachsenen Senke, erreichte ich in der Dämmerung. Eine Frau stand in der Tür. Sie musste nach mir Ausschau gehalten haben, ich hatte mich ein paar Tage zuvor per Telefon angekündigt. Ich freute mich auf eine warme Suppe und ein Gespräch. Im holzgetäfelten Gemeinschaftsraum brannte ein kleiner Ofen. Auf dem hölzernen Tisch stand ein Tablett, darauf eine Schale mit Misosuppe, eine zweite mit Reis, dazu ein Teller mit Tempuragemüse, alles kalt.

Dinner at five!

Ich klopfte an die Holztür, die in die Küche führen musste. Nach ein paar Minuten hörte ich ein Schlurfen. Ein alter Mann erschien. „Konichiwa!“, rief ich, der Mann nickte stumm. Ich zeigte auf die Suppe, umfasste mit gekreuzten Armen meine Schultern und schüttelte mich. Der Mann murmelte etwas über seine Schulter, die Frau kam und sagte freundlich, ganz leise: „Dinner at five.“

Am nächsten Morgen war die Kleidung, die ich um den Ofen drapiert hatte, feucht und kalt. Beim Frühstück – Misosuppe und Reis – warnte mich die Köchin vor einem Taifun. Ich zeigte hinaus, die Sonne strahlte am wolkenlosen blauen Himmel, und lachte. Ich war keine Stunde unterwegs, da fing es an zu stürmen und zu regnen. Wieder erkannte ich erst einen Meter vor der Vermessungssäule, dass ich den nächsten Gipfel erreicht hatte, den Kita-arakawa-dake.

Ich gelangte zu einer Schutzhütte, ein junger Mann betreute dort eine Wetterstation. Er reichte mir wortlos einen Becher mit heißem Wasser und einen Beutel Tütensuppe und zeigte auf eine Büchse, auf der eine Preisliste klebte. Für die Suppe verlangte er drei Euro. Da es in der Hütte bis auf heißes Wasser nichts Warmes gab, und ich trotz Poncho nass bis auf die Unterhose war, zog ich wieder hinaus in den Regen.

Um halb acht geht der Strom aus

Kurz nach fünf war ich in der nächsten Hütte. Die Misosuppe war lauwarm. Um halb acht schaltete die wortkarge Hüttenwirtin kommentarlos den Strom ab. Frierend lag ich unter meinen Plastikdecken und las Kerouac. Um zwei Uhr hatte ich das Buch zu Ende gelesen. Ich beschloss, die Wanderung abzubrechen.

Ein steiler Pfad führte von der Hütte in ein Tal im Süden der Südalpen, in eine Stadt namens Shimakura-tozan-guchi. Der nächste Weg aus den Alpen lag zwei Tagesmärsche entfernt. Ich stellte mir vor, wie ich meine kalten Füße in das dampfende Wasser eines Onsen steckte, eines Spas mit heißem Heilwasser.

In meinen Turnschuhen rutschte ich fast den Hang bergab. Die Erde war schlammig, der Pfad kaum zu erkennen, die Regenwolken hingen in den dunklen Tannen. Eine Stelle aus dem Buch kam mir in den Sinn. Wandern selbst sei wie Zen- Buddhismus, hieß es da. Gleichgültig wohin man trete, es sei immer richtig, es gehe immer weiter. Ich war einem Satori ziemlich nah.

Reisetipps für Japan

ZUM WANDERN

Ausgangspunkt der Route ist Hirogawara. Dort gibt es Infomaterial und

einfache Karten. Die Wanderroute ist gut ausgeschildert, meist auch auf Englisch.

ZUM ÜBERNACHTEN

Die Hütten in den Minapi-Alpen (den Japanischen Süd-Alpen) sind in der Regel von Mitte Juni bis Mitte September geöffnet. An den Wochenenden sollte man ein Bett und vor allem das Essen reservieren. Die Übernachtung kostet rund 40 Euro, das Essen etwa 25 Euro.

ZUM LESEN

Es gibt einige Internetseiten, die gute Infos zu Wanderungen auf Englisch bieten, zum Beispiel japanhike.wordpress.com und Japan-guide.com.

„Hiking in Japan“ von „Lonely Planet“ ist ein detaillierter und aktueller Wanderführer.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false