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Heinz Brandt als Gründungsmitglied der Grünen 1979.

© ullstein bild

Widerstandskämpfer Heinz Brandt: Der Mann, der immer wieder aufstand

Bei den Nazis überlebt er das KZ. Die Stasi verschleppt ihn aus dem Westen. Im Januar 1986 stirbt Heinz Brandt. Porträt eines irrwitzigen Lebens.

Wo beginnen in diesem Leben, in diesem irrwitzigen Leben? Etwa am 13. März 1933, als ihn SA- Schläger in einen Berliner Keller zerrten und misshandelten? Oder im Jahr darauf, als ihn die Nazis zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilten und ins KZ schickten, Sachsenhausen, Auschwitz, Buchenwald? Oder am 16. Juni 1961, als ihn die Stasi in West- Berlin kidnappte und wieder einmal ins Zuchthaus steckte?

Jeder einzelne Vorfall hätte genügt für ein ganzes Leben. Hätte ein Leben zerstören können. Aber Heinz Brandt hatte viele Leben. Er ist immer wieder auferstanden.

Vielleicht sollte man, um die vielen unbegreiflichen Leben des Heinz Brandt wenigstens ein bisschen begreifen zu können, mit einem ganz anderen Datum beginnen, mit dem Jahr 1921. Er lebt damals mit den Eltern in seiner Geburtsstadt Posen, in einer liberalen, nicht sonderlich gläubigen jüdischen Familie. Es ist Juni, durch die Stadt zieht die Fronleichnamsprozession, und der Zwölfjährige ist „mächtig angezogen, gefangengenommen“ von dem „beeindruckenden Schauspiel“, wie er später in seiner Autobiografie notiert. Eine Sehnsucht steigt in ihm hoch, Teil dieser gläubig-geeinten Gemeinschaft zu sein. Alle um ihn fallen auf die Knie in inbrünstigen Gebeten. Nur er, das jüdische Kind, bleibt aufrecht stehen, beugt nicht die Knie. Nicht zugehörig und zugehören wollend zugleich.

Sein Sitzplatz: zwischen allen Stühlen

Es ist eine Urerfahrung für ihn, und es folgt sogleich eine zweite: Ein Stolz ergreift ihn, „ein größenwahnsinniger Stolz, dass ich – das Kind – geistig diesen erwachsenen Götzenanbetern überlegen, also auserwählt bin“. Er fühlt sich angezogen von der Masse, fasziniert – aber als Außenseiter zugleich bedroht von ihr. Und doch mit einem Selbstbewusstsein gesegnet, sich als Einzelner behauptet zu haben, nicht in die Knie gegangen zu sein.

Diese Erfahrung des Zwölfjährigen ist eine Erfahrung, die das gesamte spätere Leben des Heinz Brandt grundieren wird. Ambivalenz der Masse, Ambivalenz des Einzelgängertums. Sitzplatz: zwischen allen Stühlen. Stehplatz: immer an der Grenze.

Wahrscheinlich war es seine Mutter, die ihm diese Plätze früh zugewiesen hat. Sie lenkte ihn „unmerklich in ein Fahrwasser, das meiner Wesensart entspricht: gegen den Strom zu schwimmen. Nichts den Leuten nachplappern, die alles glauben, was von oben kommt. Von oben sind nur Lügen, Dummheiten und Verbrechen zu erwarten“.

Eine weitere Erfahrung hatte Heinz Brandt schon ein paar Jahre zuvor gemacht. Es war das Grauen des Ersten Weltkriegs, von dem er als Kind aus den Berichten seiner Eltern und Verwandten erfuhr, ein frühes Schlüsselerlebnis, das den Jungen prägte und aus ihm später wie selbstverständlich einen Friedenskämpfer machte. Und das hieß zu jenen Zeiten: einen Sozialisten, einen Kommunisten. „Revolution ist eine gute Sache. Revolution bringt den Frieden.“ Mit 17 geht er nach Berlin und erlebt die Aufbruchsstimmung der 20er Jahre. Es war, wie er später sagt, die schönste Zeit seines Lebens. „Uns erfüllte messianische Zukunftshoffnung. Wir waren das Salz der Erde.“ Wozu wohl auch gehörte, dass Heinz Brandt, jugendbewegt und mit weißem Schillerkragen, sein Leben lang ein homme à femmes gewesen ist.

"Er war kein harter Mann", sagt der Sohn

Protest: Heinz Brandt wird 1980 bei der Räumung des Hüttendorfs der Atomkraftgegner in Gorleben von der Polizei weggeführt.
Protest: Heinz Brandt wird 1980 bei der Räumung des Hüttendorfs der Atomkraftgegner in Gorleben von der Polizei weggeführt.

© Günter Zint/Panfoto

Bald schon kam diesem Glück des Heinz Brandt sein Widerspruchsgeist in die Quere. Fassungslos sah er, wie ein rigider Dogmatismus die KPD, der er früh beigetreten war, ergriff, wie sein Idealismus zerschellte, wie seine Gewissheiten bröckelten. Er gehörte fortan zur Gruppe der sogenannten „Versöhnler“, die sich für eine engere Bindung zur unter den Kommunisten verhassten Sozialdemokratie starkmachten, misstrauisch beäugt von der Parteiführung.

Noch misstrauischer von den Nazis. Am 12. März 1933 finden die vorerst letzten Berliner Kommunalwahlen statt. Brandt steht mit dem KPD-Plakat vor dem Wahllokal. Ein jugendlich-heroischer, ein tollkühner Akt. Schon tags darauf wird er überfallen, in ein Auto geworfen und zur SA-Kaserne in der Kreuzberger Hedemannstraße gebracht. Er wird verhört, mit Fäusten geschlagen, immer wieder, wird ausgepeitscht – und dann unversehens freigelassen. Die erste Auferstehung. Heinz Brandt kann es sich nicht erklären.

Flüchten oder standhalten? Für ihn war das keine Frage, er hatte nun einmal den „Frontfimmel“, wie er seine Beharrlichkeit nannte, er blieb in Berlin, ging in den Untergrund und verteilte die illegale kommunistische Betriebszeitung „Siemens-Lautsprecher“. Es währte nicht lange, dann wurde er dabei erwischt. 1934 wird er zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt, nach deren Verbüßung aber keineswegs freigelassen. Er kommt nach Sachsenhausen ins KZ, nach Auschwitz, nach Buchenwald. Er trägt die eingestochene Nummer 69912 auf dem Unterarm. Insgesamt ist er zehn Jahre, vier Monate und sieben Tage in Haft. „Jede dieser Nächte war eine Nacht vor der Hinrichtung, eine Nacht vor dem Foltertod.“ Er überlebt die Hölle.

Die DDR hatte mit Brandts Träumen nichts zu tun

Wie ihm das gelungen ist? Selbst Stefan Brandt weiß es nicht. Der Sohn, Kinder-Psychotherapeut, 66 Jahre alt. Sitzt am Stadtrand von Berlin in seinem Wohnzimmer mit Adventskranz, offenem Kamin, Ledersitzgruppe und spricht von einem Rätsel. Vielleicht habe sein Vater ja recht gehabt, der hinterher sagte: „Es war Glück, Glück und noch einmal Glück.“ Andererseits, eine Kämpfernatur ist er immer gewesen, der Vater. Und noch einmal andererseits: „Ich habe ihn nie so wahrgenommen. Er war kein harter Mann.“ Dass das weiche Wasser in Bewegung mit der Zeit den harten Stein besiegt, hat Bertolt Brecht geschrieben.

Als Kind sei ihm das, sagt der Sohn, sogar regelrecht peinlich gewesen, „dieses Weichliche, diese hohe Stimme“. Der Vater sei so warmherzig gewesen, „ein großer Kümmerer, du konntest alles von ihm kriegen, was du wolltest“. Seine eiserne politische Konsequenz, sein unzähmbares Widersprechen hielt er in der Familie zurück – jedenfalls was seine Kinder anging. Mit seiner Frau jedoch – „sie war die Strenge!“ – habe der Vater so gut wie jeden Tag gestritten. „Die beiden haben viel miteinander ausgehalten, mein Vater hatte immer Frauengeschichten.“

Eine davon sollte ihm zum Verhängnis werden. Denn die Leidenszeit des Heinz Brandt war nicht zu Ende, als das KZ Buchenwald am 11. April 1945 von der US-Armee befreit wurde (oder von den Häftlingen selbst; darüber gehen die Meinungen der Historiker auseinander). Brandt jedenfalls ging sofort nach Berlin, sofort wieder in die Dienste der kommunistischen Partei, die bald SED hieß, und glaubte sich nach den Verheerungen der Nazi-Jahre jetzt nahe an seiner politischen Vision: dem Aufbau einer besseren Gesellschaft, einer sozialistischen. Und er machte Karriere. War erst Abteilungsleiter für Pressearbeit und von 1950 an Sekretär der SED-Bezirksleitung Berlin.

Die Enttäuschung, das Entsetzen folgten. Die Gesellschaft, die hier im Entstehen war, hatte mit Brandts Träumen nichts zu tun, stand unter dem Diktat von Stalin und seinem Statthalter Ulbricht. Schon bald kam es zu ersten Konflikten, obwohl sich der stets Unangepasste ganz gegen sein Naturell anpasste und verbog, wo er konnte. Sie kulminierten an den Tagen um den 17. Juni 1953. Wieder einmal klammerte sich Brandt an eine neue Hoffnung. Der Tod Stalins würde zu einem anderen Kurs der Sowjetunion und mithin der DDR führen, Ulbrichts Tage seien gezählt. Am 16. Juni schien das Ziel ganz nahe. Es gelang Brandt, der DDR-Führung die Rücknahme der Normerhöhungen abzuringen, die für so viel Zorn gesorgt hatten. „Wann denn war ich glücklich?“, fragte Brandt später und antwortete: „Ich war es nie so intensiv, so allumfassend wie in der ersten Juniwoche 1953.“

Wie das Glück zu Ende ging, ist bekannt. Und weil Brandt öffentlich die offizielle Lesart der DDR zurückwies, westliche Agenten hätten den Volksaufstand angezettelt, war seine Parteikarriere vorüber. Im August 1953 wurde er als Berliner Sekretär abgelöst.

Der Philosoph Bertrand Russell engagierte sich für ihn

Familienmensch: Vater und Sohn Stefan im Jahr 1953.
Familienmensch: Vater und Sohn Stefan im Jahr 1953.

© privat

Die Entfremdung zum DDR-Staat wuchs, 1958 ging Heinz Brandt in den Westen, nach Frankfurt am Main, wo er eine Redakteursstelle bei der Mitgliederzeitschrift der IG Metall antrat. Dann kam der 16. Juni 1961. Brandt flog nach Berlin zum Kongress der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen; und er verfolgte mit dieser Reise wohl noch eine weitere Absicht. Jedenfalls traf er sich mit einer gewissen Eva Walter, bekannt als Bar-Dame in der beim Ku’damm gelegenen „Daddy-Bar“. Ein Freund, zumindest hatte ihn Brandt bis dahin dafür gehalten, hatte diese Bekanntschaft gestiftet, und er ahnte nicht, dass es sich dabei um eine Stasi-Mitarbeiterin handelte. Jedenfalls besuchte Brandt jene Eva Walter nachmittags in ihrer Steglitzer Wohnung. Was sich dort genau abspielte, ist unbekannt, gesichert ist nur, dass man starke Getränke zu sich nahm, Whisky, zwei, drei Gläser. Und dass sich darin ein betäubendes Mittel befunden haben muss. Brandt brach nach dem Verlassen der Wohnung in der Wulffstraße zusammen, Männer schleppten ihn in ein Auto, und der Entführte will, ehe er ohnmächtig wurde, noch die Worte gehört haben: „Auf dich haben wir gewartet.“

Er fand das Bewusstsein wieder im Osten Berlins, im Untersuchungsgefängnis Hohenschönhausen. Dort machte ihm die DDR ein unmoralisches Angebot: „Ich sollte erklären, ich sei freiwillig gekommen, angewidert von den Kriegsvorbereitungen in der Bundesrepublik. Offenbar wollten sie mich als Kronzeugen missbrauchen für die Notwendigkeiten des Mauerbaus.“

Heinz Brandt verweigerte diese Erklärung. Also wurde ihm der Prozess gemacht, und er fand sich erneut dort, wo er lange Jahre gewesen war, im Zuchthaus. Verurteilt zu 13 Jahren wegen staatsgefährdender Propaganda und Hetze.

Er reihte sich ein in den Widerstand gegen die Atomkraft

Sogleich begann im Westen eine Kampagne für seine Freilassung. Der Philosoph Bertrand Russell engagierte sich, der Psychoanalytiker Erich Fromm (ein Großcousin von Heinz Brandt), Amnesty International, Gewerkschaften und auch der Historiker Manfred Wilke, der mit ihm später befreundet war. Dieser glaubt heute, dass das Entführungsdatum des 16. Juni nicht zufällig gewählt war. Schließlich hatte Brandt am 16. Juni 53 seinen größten politischen Erfolg erzielt und das Denkmal Ulbricht zum Wanken gebracht. Vielleicht, sagt er, war das Datum bei der Vorliebe der DDR-Oberen für Symbolik ein später Racheakt.

Manfred Wilke und die anderen kämpften und hatten Erfolg. Nach knapp drei Jahren kam Heinz Brandt aus dem Zuchthaus frei, ging zurück nach Frankfurt am Main zur Zeitschrift „Metall“ – und fing wieder von vorne an.

Einen Tag nach diesem Neubeginn hat Manfred Wilke den Freigelassenen in dessen Frankfurter Büro getroffen. Es war ein heißer Tag, und Brandt trug ein kurzärmeliges Hemd. Da sah Wilke die Nummer 69912 auf dessen Unterarm. Er war tief erschüttert von diesem Anblick. Ein Gezeichneter ein Leben lang. Und einer, der trotz allem nie aufgab. „Er lebte das Prinzip Hoffnung“, sagt Wilke, „nie hat ihn sein Geschichtsoptimismus verlassen: Einmal muss es doch gelingen.“

Heinz Brandt blieb sich treu, auch jetzt nach seiner dritten Wiederauferstehung. Er eckte an, schon wieder. Legte sich nun mit den Gewerkschaftsfreunden an, weil er deren Pro-Atomkraft-Kurs nicht mittragen wollte und sich in den Widerstand gegen den Bau von Kernkraftwerken, zum Beispiel in Brokdorf, einreihte. Er trat in Universitäten bei Teach-ins auf, saß auf Podien der Friedensbewegung mit Helmut Gollwitzer, Heinrich Böll, Günter Grass. Er war beim Gorleben-Protest dabei, ließ sich bei einer Sitzblockade in Lüchow-Dannenberg von der Polizei wegtragen. Brandt lernte Rudi Dutschke kennen und Daniel Cohn-Bendit, zählte zu den Gründern der Grünen, trat aber schon wenige Monate später wieder aus, weil er eine „linkssektiererische Kaderpartei“ in ihnen witterte.

„Ich war eben immer ein Ketzer“, sagte Heinz Brandt. „Er taugte eben nicht zum Apparatschik“, sagt heute Manfred Wilke.

Heinz Brandt musste allein marschieren. Allein gegen die Masse. Wie damals bei der Posener Fronleichnamsprozession. Er ging nicht in die Knie. Am 8. Januar 1986 ist er gestorben. Wer heute nach seinen Spuren sucht, wird nicht leicht fündig. Ein Grab gibt es nicht, er wollte keins.

„Die Nachwelt flicht dem Mimen keine Kränze“, heißt es in Schillers "Wallenstein". Dem ewig Gescheiterten, dem ewig Wiederauferstandenen auch nicht. Die Universität Osnabrück hat ihm immerhin die Ehrendoktorwürde verliehen. Eine Schule in Berlin-Weißensee trägt seinen Namen. Und im Bezirk Pankow ist eine Straße nach ihm benannt. Es ist keine prachtvolle Straße.

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