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Geschichte eines Verstecks: Vom Erdboden verschwunden

511 Tage hatten sich ukrainische Juden in einer Höhle vor den Nazis versteckt. Zufällig entdeckte ein Amerikaner Knöpfe – und erforschte diese spektakuläre Geschichte.

Von Julia Prosinger

Zerschlissene Schuhe, brüchige Knöpfe. Jemand muss sie getragen haben. Glasflaschen, Tontöpfe, ein Kamm. Jemand hatte sie benutzt. Wände aus Lehm, aus Steinen. Jemand hat sie gegen die Zugluft errichtet.

Hier, 16 Meter unter der Erde, hatten Menschen gewohnt, dies war ihr Zuhause. Das wird dem Amerikaner, dem Höhlenforscher und Polizeikommissar Chris Nicola sofort klar, als er 1993 die Priestergrotte erkundet – eines der größten unterirdischen Labyrinthe der Welt, 123 Kilometer Gänge. Sie liegt im Westen der Ukraine, nahe dem kleinen Ort Korolowka, der einst zu Dritteln jüdisch, polnisch und ukrainisch war. Heute leben dort nur noch Ukrainer.

Normalerweise findet Nicola auf seinen Exkursionen Steinformationen, vergessene Insekten, unentdeckte Seitenwege, manchmal sogar Piratenschätze. Als er 1993 die alten Schuhe in der Hand hält, die Knöpfe vom Boden aufliest, weiß er, dass er ein Juwel gefunden hat.

Ein „Juwel von einer Geschichte“, wie er sagt. 50 Jahre vergessen. „Ein Puzzle – ich musste es unbedingt vervollständigen.“ Nicola, 61, dicke Silberringe, tiefes Lachen, starker New Yorker Akzent, erzählt nun in Berlin davon, als erzähle er zum ersten Mal. Bei seiner Arbeit als Ermittler, auch beim FBI, hat er es mit Drogendealern, mit Schwerkriminellen zu tun. In seiner Freizeit taucht er in Schiffswracks, läuft Marathon, fährt Motorrad. Nicola ist ein Mann wie Indiana Jones. Nicola weiß nicht, wie Aufgeben geht.

Wochen verbrachte er in Bibliotheken und auf Onlinedatenbanken. Jahr für Jahr kehrte er zurück in die Westukraine, suchte die Höhle nach Spuren ab, fragte sich durchs Dorf, trank Wodka mit den Ukrainern. „Es waren ein paar Juden“, hörte er dort. Mehr erfuhr er nicht. Er sprach zu schlecht Ukrainisch, und die alten Männer wollten sich nicht erinnern an jene Zeit, als sie auf den Schultern ihrer Väter saßen und das Abschlachten der Juden mitansahen.

Nicola kannte Verstecke anderer Juden während der Verfolgung: Anne Franks Hinterhaus, manche überlebten im Wald, andere in der Kanalisation. Von einer Höhle hatte er nie gehört. Sieben Jahre dauerte die Suche des Besessenen. Auf einen Online-Aufruf meldete sich schließlich ein Verwandter der Höhlenbewohner. Langsam puzzelte Nicola aus Gesprächen und Tagebüchern die Geschichte des längsten menschlichen Aufenthalts unter der Erde zusammen: 511 Tage.

Es ist vor allem die Geschichte von Esther Stermer. Esther ist eine belesene Frau, sie spricht mehrere Sprachen und hält wenig von Autoritäten. Als die ukrainische Polizei 1942 alle Juden auffordert, sich zu registrieren – der sichere Weg ins Konzentrationslager – tauscht sie Haus und Land gegen Tickets nach Kanada. Doch der Krieg erreicht die Ukraine zu schnell, von der Gestapo verfolgt flüchten die Stermers und vier weitere jüdische Familien in einer sternklaren Nacht. Am 12. Oktober 1942 ziehen sie mit Kartoffeln und Holz, mit Decken und Stroh in eine Höhle. Zunächst in eine kleine, da spüren die Nazis sie kurz darauf auf. „Wird der Führer den Krieg verlieren, weil wir hier leben?“, fragt Esther Stermer sie.

Mit viel Geschick entfliehen die Stermers ihren Peinigern und finden durch einen Zufall eine größere Höhle: die Priestergrotte. 38 Menschen zwischen zwei und 76 Jahren werden hier überleben.

Wenn Nicola Höhlen erkundet, trägt er Trockentauchanzug, Steinschlaghelm und Stirnleuchte. Die Stermers haben nichts davon. Aber sie sind Handwerker und Bauern, sie kennen ihre Wälder und ihre Höhlen. In der Grotte finden sie einen unterirdischen Süßwassersee. Esther Stermer wird später schreiben: „So groß, dass man ein Boot darauf rudern kann.“

Sie bauen eine Dusche, waschen sich regelmäßig, eine Passage der Grotte machen sie zur Toilette, Papier gibt es keines. Schmutziges Wasser kippen sie weit entfernt von ihrem Trinkwassersee aus. Wenn sie an Reinigungsmittel kommen, putzen sie den Höhlenboden. Einen Jungen mit Läusen trennen sie eine Weile von der Gruppe. Sie plätten den Boden in einem Teil der Höhle mit Schaufeln, stellen 15 Zentimeter hohe Holzpfähle auf, schneiden Latten aus Bäumen. Sechs Personen teilen ein solches Bett. Das hält warm, die Höhle hat durchschnittlich zwölf Grad.

Wie Tiere im Winterschlaf dämmern die Stermers bis zu 20 Stunden täglich, sparen Kalorien. Wenn sie wach sind, schnitzen sie Löffel, nähen neue Schuhe, ständig geht etwas im Matsch verloren. Die Kinder singen im Dunkeln, erzählen Geschichten aus der Bibel und sagen Gedichte auf. Sie dürfen nicht weit laufen, sie könnten sich im Labyrinth verirren.

Die wertvollen Kerzen entzünden die Familien nur, um zu kochen. Feuer machen sie an Stellen, wo Wind den Rauch davonträgt. Sie könnten sonst ersticken. Einmal am Tag gibt es Essen. Die Männer, die alle paar Wochen nachts die Höhle verlassen, um Lebensmittel aufzutreiben, essen zweimal. Esther Stermer behält einen Kalender im Kopf. Sie weiß, wann Vollmond ist. Sie erinnert sich an die Feiertage. Sie warnt die Söhne vor Dorfbewohnern mit bellenden Hunden. Wie ein General steuert sie ihr U-Boot.

Wie Nicola die Geschichte rekonstruierte

Wenige Bauern handeln mit den Flüchtlingen. Um zu überleben, müssen sie stehlen. Manche schießen auf sie. „Wir haben ihn uns nur geborgt“, sagen die Stermers 60 Jahre später über den großen Mühlstein, der so schwer ist, dass er noch dort unten liegt, unbeweglich selbst für den starken Nicola. Die Frauen mahlen Mais zu Mehl, backen Brot, stampfen Möhren und Kartoffeln zu Suppe. Einige der Kinder haben später Rachitis, Vitamin-D-Mangel, aber keines verhungert.

60 Jahre kannte kaum jemand diese Geschichte. Zwar hatten die Stermers Kindern und Enkeln vor dem Schlafengehen davon erzählt. Andere Holocaust-Überlebende glaubten ihnen aber nicht oder wollten den glücklichen Ausgang nicht hören. Komplette jüdische Familien wie die Stermers sind selten.

Auch Nicola, der Ermittler, sollte seine Puzzleteile nicht so einfach bekommen. Als er am Telefon erwähnte, einen Dokumentarfilm produzieren zu wollen, knallte der älteste der Brüder, Saul Stermer, den Hörer auf. Ein Nichtjude, der an seiner Familiengeschichte Geld verdienen wollte! Nicola schrieb einen Brief. Warb für sich, niemand kenne diese Höhle besser als er. Kaufte koschere Kekse zu einem ersten Treffen. Präsentierte Dias: Eines zeigte ein Stück Höhlenwand, darauf standen mit Kreide die Namen der Bewohner. Nicht auf Hebräisch, nicht Jiddisch, das sie in der Höhle sprachen, sondern in lateinischer Schrift. Sollten sie, sollte die jüdische Kultur nicht überleben, könnte auf diese Weise jemand ihre Geschichte rekonstruieren.

Nicola schrieb nichts mit, als die Alten schließlich lossprudelten, sah ihnen nur tief in die Augen. Gut, gibt er jetzt lachend zu, manchmal rannte er ins Bad und machte sich auf Toilettenpapier Notizen dieser unglaublichen Geschichte.

Im Frühjahr 1944, so erfuhr Nicola, bewegt sich die Front genau über die Stermers hinweg. Mit jedem weiteren Tag schwinden die Vorräte. Im April liegt endlich ein Zettel am Höhleneingang, vermutlich von einem der Bauern: „Die Russen sind da, ihr könnt rauskommen.“ Sie klettern ans Tageslicht. Eines der Mädchen bittet, die helle Kerze auszupusten. Sie erkennt die Sonne nicht mehr.

Oben finden sie eine neue Welt. 95 Prozent aller Juden in der Region sind ermordet, 1,5 Millionen ukrainische Juden insgesamt. So schnell sie können, reisen sie nach Kanada aus, wo sie bis heute als Geschäftsleute leben. Esther Stermer stirbt 1983 mit 95.

Das Leben in Kanada könnte das Ende der Flucht sein. Aber jeder hat etwas mitgenommen aus der Höhle. Eine der Frauen trägt stets etwas Essen in der Handtasche, eine andere sucht in schweren Zeiten dunkle Zimmer auf, die beiden alten Stermer-Brüder haben sich gigantisch hohe Eingangshallen gebaut. Sol Wexler, den Nicola als Ersten zum Sprechen gebracht hatte, versuchte sich nach dem Gespräch umzubringen. Er hatte die Dunkelheit ein Leben lang nicht vergessen können. Obwohl sie damals Zuhause bedeutete. Doch wenn dem Körper Sonne fehlt, produziert er das Hormon Melatonin. Melatonin macht traurig.

Sol Wexler hatte auch die ständige Angst nie vergessen. Die Zurückgebliebenen bangten, wenn die Männer nachts den Schacht hinaufkletterten. Kamen sie zurück, riefen sie eine Parole. Eine gute bedeutete: Keine Gefahr. Eine schlechte hieß: Jemand zwingt uns zu euch hinunter. Wären sie entdeckt worden, es hätte keinen Notausgang gegeben. Die Familien waren unbewaffnet, hatten sich nur Gewehre aus Holz geschnitzt, mit Kohle bemalt, um Angreifer abzuschrecken.

Als Nicola, der Undercoverermittler, der Extremsportler, von Sol Wexlers Selbstmordversuch erfährt, bricht er zusammen. Betritt er eine Höhle, fängt er an zu zittern. Wenn er heute davon erzählt, weint er. Wie jetzt. Sekundäre Traumatisierung, sagen die Ärzte.

Ursprünglich war Nicola 1993 in die Ukraine gereist, um seine Familiengeschichte, die von orthodoxen Kosaken, zu erforschen und einige Gipskarsthöhlen zu sehen. Dann fand er die Knöpfe und Schuhe. Die Geschichte der 38 Überlebenden ist nun seine Geschichte geworden.

In ihren Memoiren schrieb Esther Stermer 1960, auf Jiddisch und vorausschauend wie immer: „Vielleicht macht jemand aus dieser Geschichte eines Tages einen Film.“ Mit der Regisseurin Janet Tobias hat Nicola einen gedreht. Die alten Stermers sind dafür noch einmal in die Höhle zurückgekehrt.

„No Place on Earth – Kein Platz zum Leben“ läuft seit Donnerstag in den Kinos.

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