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Spanien: Stierkampf: Das Leben nach dem Tod

Tierquälerei, sagen die Gegner. Doch für den Torero ist der Kampf mit dem Stier die Chance auf Unsterblichkeit. Wer dabei umkommt, der wird zum Helden. Wer überlebt, dem bleiben im Alter nur Geschichten.

Erst am Morgen hat Jaime Ostos, 78, wieder an den Tag gedacht, an dem er fast unsterblich geworden wäre, an den Tag, an dem ihn ein Stier fast getötet hätte. Die große Narbe an der Leiste schmerzte, so wie sie es immer tut, wenn das Wetter umschlägt. Er sitzt auf einem Sofa in einem Apartment in Marbella an der Costa del Sol, in dem er jedes Jahr den Sommer verbringt. Sein rechtes Bein ist dick. Seit jenem Tag funktioniert die Durchblutung nicht mehr richtig. Das Horn des Stiers zerfetzte damals die Hauptschlagader in der Leiste.

„Wenn der Stier einen Torero in der Arena tötet, ist das natürlich tragisch“, sagt Jaime Ostos. Er macht eine Pause, atmet tief ein. „Aber es ist auch ein Geschenk für den Stierkämpfer.“

Was in der Arena passiert, ist das Drama des ewigen Lebens, es handelt von der Überwindung des Todes durch den Tod. Die Stierkämpfer sind die Helden dieses Dramas. Und diejenigen, die der Stier in der Arena tötet, können unsterblich werden. „Die Faszination des Stierkampfs liegt darin, dass der Tod öffentlich aufgeführt wird“, sagt Jaime Ostos. „Das gibt es sonst nirgends.“

Nachdem die Region Katalonien vor einem Monat den Stierkampf verboten hatte, bekamen viele im Land Angst: Wird die Tradition in ganz Spanien verboten? Tierschützer kündigten an, vor das Verfassungsgericht zu ziehen. Doch die Aufregung hat sich wieder gelegt. Es würde keine Mehrheit für ein Verbot geben. Auf den Meinungsseiten der Zeitungen steht jetzt zu lesen, dass die Katalanen die Tradition nur abgeschafft haben, weil der Stierkampf ein Symbol für Spanien ist und weil die Region unabhängig sein will. Die Stierkampfarenen waren diesen Sommer voll.

„Nur Stierkämpfer, die beim Publikum beliebt sind, können in die Walhalla der Helden eintreten“, schreibt Alberto Villar, Professor für Kunstgeschichte. Er hat untersucht, wann Toreros unsterblich werden. Herausgefunden hat er, dass der Torero während des Kampfes oder kurz darauf sterben und ihm anschließend eine Statue errichtet werden muss. Und dass zur gleichen Zeit kein historisches Ereignis stattfinden darf.

Der Stier, der Jaime Ostos fast das ewige Leben geschenkt hätte, hieß Avispado. Es passierte am 27. August 1963 in Tarazona de Aragón im Norden Spaniens. Ostos erinnert sich noch an alles. Eigentlich sollte er gar nicht auftreten, es war sein freier Tag. Doch ein Bekannter lockte ihn mit einem hohen Honorar.

Der Kampf begann gut, Avispado hatte Lust zu kämpfen, das Publikum johlte. Jaime Ostos schwenkte das rote Tuch, Avispado lief ihm entgegen. Doch plötzlich fuhr ein Windstoß durch die Arena, erfasste den roten Stoff. Der wirbelte in die Luft und legte sich dann auf sein rechtes Bein. Avispado war nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Als Nächstes spürte Jaime Ostos einen leichten Schlag, dann spritzte ihm warmes Blut ins Gesicht. Der Stier hatte ihm das Horn in die Leiste gebohrt.

Innerhalb weniger Augenblicke verlor Jaime Ostos mehrere Liter Blut. Er wurde bewusstlos. Erst neun Tage später sollte er wieder aufwachen.

Als der zuständige Arzt den Torero auf der Krankenpritsche sah, war er sicher, dass er nichts mehr für ihn tun könnte. Die Aorta war zerfetzt, in der Arena gab es kein Operationsbesteck. Der Arzt ließ den Pfarrer kommen.

„Es hätte mir nichts ausgemacht, damals zu sterben“, sagt Jaime Ostos heute in seinem Apartment in Marbella. „Ich kann mich an keinen glücklicheren Moment erinnern als an den, in dem ich so viel Blut verlor.“

Unter den Zuschauern war ein weiterer Arzt, er arbeitete in der Stierkampfarena von Zaragoza. Nach dem Unfall war er ebenfalls in den kleinen weiß gekachelten Raum gestürmt, der der Arena angeschlossen war und in dem die Toreros versorgt werden, wenn etwas passiert. Er hatte schon viele komplizierte Wunden gesehen, doch die von Jaime Ostos verunsicherte auch ihn. Trotzdem bot er sich an zu operieren. Der Pfarrer hatte gerade die Salbung beendet, da brachte ein Krankenwagen Operationsbesteck.

Der Arzt aus Zaragoza schaffte es, die Aorta zusammenzunähen. Dann ließ er alle Zuschauer mit Blutgruppe 0 in das Krankenzimmer kommen.

Die Geschichte des Beinahe-Tods von Jaime Ostos wurde ein Jahr später verfilmt. „El Valiente – der Mutige“ hieß der Film, in dem er selbst die Hauptrolle spielte. Doch an den Helden Jaime Ostos erinnert sich kaum noch jemand. Man kennt ihn in Spanien vor allem aus den Klatschmedien, wo er wegen seiner häufig wechselnden, meist jüngeren Freundinnen Schlagzeilen macht. Es ist, als ob er, der dem Tod entkam, sich nur noch mit Jugend umgeben möchte.

Dabei zögerte er während seiner 21-jährigen Karriere nicht, sich dem Tod zu stellen. Er war bekannt als sehr mutiger Torero, kam dem Stier ganz nah, das Publikum liebte ihn dafür. „Einmal durchbohrte ein Stier mit seinem Horn meinen Oberschenkel“, erzählt er. „Ich nahm ein Stofftaschentuch, zog es durch das Loch und kämpfte weiter. Als ich den Stier getötet hatte, stand das Blut in meinem Schuh.“ Jaime Ostos spricht gern über seine Verwundungen. „25 Mal haben mir die Stiere ein Horn in den Körper gerammt“, sagt er. Überall hat er Narben, an den Waden, an den Oberschenkeln, am Bauch, an den Armen und am Hals, an der Leiste. Er ist stolz auf jede einzelne, er schiebt das Hemd nach oben, krempelt die Hose hoch, erzählt jede Geschichte.

„Jede Spur, die das Horn eines Stiers auf deinem Körper hinterlässt, ist wie ein Orden“, sagt auch Antonio Chenel „Antoñete“, auch er ein ehemaliger Stierkämpfer. 14 Mal stachen die Stiere in seinen Körper, die Narben spürt er jeden Tag. Doch auch ohne den Schmerz würde kein Tag vergehen, an dem er nicht an sie denkt. Jetzt, mit fast 80 Jahren, ist er während der Saison fast jeden Tag in der Arena, allerdings auf den Zuschauerplätzen. Er kommentiert die Stierkämpfe für einen Radio- und einen TV-Sender. Wenn er könnte, würde er auch heute unten im gelben Sand stehen.

Antoñete ist der Torero mit der vermutlich längsten Karriere aller Zeiten. Er war süchtig nach dem Zweikampf mit dem Stier, bei dem er nur noch aus Gefühl zu bestehen schien. Das erste Mal tötete er im Frühling 1946 einen Stier, das letzte Mal im Herbst 2002. Damals musste er aufgeben, weil er keine Luft bekam. Später sagten ihm die Ärzte, er hätte fast einen Herzinfarkt erlitten. Jede Anstrengung war von da an tabu. „Ich darf nicht mehr“, sagt Antonio Chenel.

Jetzt reist er von März bis Oktober zu den Volksfesten, während derer die Stierkämpfe stattfinden. „Ich freue mich jedes Mal, wenn um sechs Uhr abends der erste Stier in die Arena läuft“, sagt er. „Wenn es ein guter Stier ist, der kämpfen will, stelle ich mir vor, wie ich ihn bezwingen würde.“ Gerade ist er bei der Feria Grande in Bilbao, im Baskenland.

Antonio Chenel beschloss, Torero zu werden, weil er, ein Kind aus armen Verhältnissen, ein Held sein wollte. Einmal hat er gesehen, wie ein Stierkämpfer unsterblich wurde. Er war dabei, als José Cubero „Yiyo“ in der Arena von Colmenar Viejo bei Madrid starb. Es war der 30. August 1985. Antonio Chenel hatte bereits seine Stiere getötet und stand hinter der Holzabsperrung, als Yiyo, erst 21 Jahre alt, in die Arena stieg.

Es war ein schöner Kampf. Der Stier, er hieß Burlero, kämpfte mit aller Kraft um sein Leben. Nach 20 Minuten versetzte Yiyo dem Stier den Todesstoß. Das Tier wankte kurz, doch dann rannte es auf den Torero zu. Der stürzte zu Boden. Seine Helfer versuchten den Stier abzulenken, schwenkten ihre Tücher. Doch Burlero nahm noch einmal Anlauf, senkte den Kopf und bohrte Yiyo das Horn in die linke Seite. Der Stier riss den Kopf nach oben, hob Yiyo auf die Beine, ließ schließlich von ihm ab. Der Torero machte drei Schritte, dann fiel er in sich zusammen. Das Horn des Stiers hatte sich direkt in sein Herz gebohrt. Burlero starb nur wenige Augenblicke später.

Es passiert nicht oft, dass ein Torero im Kampf umkommt, vielleicht alle zehn Jahre einmal. Yiyo steht jetzt vor der Arena Las Ventas in Madrid in Bronze gegossen. Er ist unsterblich.

Und was ist Antonio Chenel geworden? Ein alter Mann mit einer interessanten Geschichte, der das Spiel mit dem Tod nur noch aus 20 Metern Entfernung sieht. Wenn er die Stierkämpfe kommentiert, kann er für wenige Augenblicke vor Zuschauern und Hörern wieder der Torero Antoñete sein, darf Anekdoten von seinen Kämpfen erzählen. Doch in jüngster Zeit schafft er es auch in diesen Momenten nicht mehr, der Held von früher zu sein. Er hat eine schwere Lungenkrankheit. Das erste Mal macht der Tod ihm Angst.

Nach dem Kampf in Bilbao tritt er zusammen mit dem Journalisten Manolo Molés in einem Hotel vor die Stierkampfanhänger, um über den Kampf zu sprechen. Die meiste Zeit sitzt er gebeugt auf einem Stuhl, malt etwas auf den Rücken eines Prospekts. Wenn er doch etwas erzählt von früher, versteht man ihn kaum, hört vor allem das laute Rasseln seines Atems. Als die Diskussionsrunde zu Ende ist, hält Molés den Prospekt hoch, Antonio Chenel hat einen Stier gemalt. Molés sagt, „deine Stiere waren auch schon mal größer“. Antonio Chenel sieht ihn verwundert an. Das Publikum lacht.

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