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Panorama: Stufen der Erinnerung

Natascha soll ein Tagebuch geführt haben – immer mehr Details über die Entführung werden bekannt

Nach und nach sickern weitere Einzelheiten durch. Das Entsetzen der Öffentlichkeit über die Unfassbarkeit des Verbrechens erzeugt ein Informationsbedürfnis, das allzu leicht die Grenze zwischen gesicherten und gänzlich unbestätigten Informationen verschwimmen lässt. Dabei wächst die Gefahr, dass falsche Informationen über die acht Jahre lange Entführung von Natascha Kampusch zu vorschnellen Interpretationen führen.

Die erste problematische Information kam von einer einfachen Wiener Polizeibeamtin, die offenbar völlig unautorisiert von ihren Vorgesetzten vor die Fernsehkameras trat, über den sexuellen Missbrauch des Mädchens berichtete und sagte: „Aber ihr ist das nicht bewusst. Sie sagt, sie hat immer alles freiwillig gemacht.“ Dass eine Beamtin ungehindert aus einer ersten Vernehmung in der Öffentlichkeit zitieren kann, ließ die angesehene österreichische Zeitung „Der Standard“ die Suspendierung von Verantwortlichen fordern. Dass das Opfer von seinem Peiniger sexuell missbraucht wurde, haben die Ermittlungsbehörden am Samstag offiziell bestätigt. Von einer freiwilligen Rolle des Opfers war offiziell am Samstag nicht mehr die Rede. Wie sollte dies auch so schnell beurteilt werden können? Ebenfalls unbestätigt ist eine Meldung der Wiener Boulevardzeitung „Kurier“. Das Blatt, das in Wien am fleißigsten recherchiert, berichtete am Samstag, die 18-Jährige trauere um ihren Peiniger, der sich nach ihrer Flucht vor einen Zug geworfen hatte. Entgegen ersten Meldungen solle sie sehr geweint haben, als sie von seinem Selbstmord erfuhr, schrieb das Blatt.

Nach den vielen vorliegenden Meldungen, Presseberichten und offiziellen Erklärungen ergibt sich nur langsam ein genaueres Bild von dem, was geschehen ist.

Am Tag ihrer Flucht hatte Wolfgang Priklopil seiner Gefangenen gesagt, sie solle das Auto staubsaugen. Natascha tat wie ihr befohlen. Dann klingelte das Telefon, und weil der Staubsauger so laut war, entfernte sich Priklopil ein wenig von ihr. Es war die Gelegenheit: Natascha nutzte die kurze Abwesenheit ihres Peinigers und rannte davon. Nach acht Jahren in einem Kellerverlies in Priklopils Haus in Strasshof war die heute 18-Jährige wieder in Freiheit. Priklopil hatte sie immer öfter aus ihrem Verlies gelassen, um mit ihr spazieren oder einkaufen zu gehen. Er wurde sich offenbar immer sicherer, dass er die totale Gewalt über sein Opfer hatte. Vielleicht wurde er auch nachlässiger. „Oder frecher“, sagte ein Ermittler.

Nach bisherigen Ermittlungen spricht alles dafür, dass Priklopil die Tat schon Monate, wenn nicht Jahre vorher geplant hatte. Das Tatfahrzeug, einen weißen Lieferwagen, hat er ein Jahr vor der Entführung gekauft. Auch die Aushubarbeiten für das perfekt versteckte winzige Verlies hatte er bereits lange vor dem Verbrechen abgeschlossen. „Er hat immer herumgebastelt, der hatte eine ewige Baustelle“, sagte eine Nachbarin. Kontrollen der Baupolizei während dieser Zeit blieben folgenlos. Ein Ermittler sagte dem „Kurier“: „Ohne Nataschas exakte Angaben hätten wir das Verlies niemals gefunden, nicht einmal bei einer Hausdurchsuchung.“ Seine berufliche Tätigkeit als Ko-Geschäftsführer einer Baufirma habe Priklopil als Tarnung für seine ständige Bautätigkeit am eigenen Haus gedient. Sein Geschäft verschaffte ihm auch ein Alibi, als er wenige Wochen nach der Tat ins Visier der Ermittler geriet, die Hunderte von Besitzern baugleicher Lieferwagen überprüften. Seine Erklärung, er müsse Bauschutt transportieren, war so glaubhaft, dass er nicht weiter verdächtigt wurde, berichtet die Deutsche Presseagentur.

Natascha Kampusch soll frühestens am Montag weiter vernommen werden. „Sie braucht dringend eine Pause“, zitiert AP einen Polizeisprecher. Sie befinde sich an einem „sicheren Ort“. Die 18-Jährige habe derzeit auch nicht den Wunsch geäußert, erneut mit ihren Verwandten Kontakt zu haben: „Sie möchte ihre Ruhe haben.“ Sie möchte auch vor den Medien abgeschirmt werden. „Warum warten die nicht, bis ich ihnen die Geschichte erzähle?“, soll sie gesagt haben.

Natascha Kampusch soll eine Art Tagebuch geführt haben. Davon versprechen sich die Ermittler weitere Informationen. Auch bestimmte Medien erhoffen sich etwas. Laut „Standard“ bieten sie für Interviews mit der Familie bis zu 70 000 Euro.

Psychologen werden Natascha auf dem Weg in den Alltag begleiten. In ihrem Verlies steckt ihre Jugend. „Sie ist als Kind hinein und kam jetzt als Frau heraus“, zitiert dpa den Polizeipsychologen Reinhard Haller. Die 18-Jährige, die entscheidende Jahre ihres Lebens ohne Freunde, ohne Familie, ohne Kontakt zur Außenwelt verbringen musste, „muss zum Teil wieder leben lernen“, sagt der Kinderpsychologe Max Friedrich, der sie betreut: „Sie kennt die Spielregeln der Gleichaltrigen nicht.“ Ihrer Körperlichkeit nach sei sie ein erwachsener Mensch, sie lebe jedoch in der emotionalen Welt eines Kindes. Sie macht einen höchst intelligenten Eindruck, sie spreche eigenartig wirkendes Hochdeutsch, könne sich aber gut artikulieren, heißt es. Die ganze Familie braucht Unterstützung: „Natascha wird zwar Menschen begegnen, die ihr in der Fantasie als Eltern bekannt sind, die aber völlig entfremdet sind“, sagt Friedrich. Beim Wiedersehen reichten sich die Eltern, die beide in neuen Beziehungen leben, erstmals wieder die Hände. Der Vater bat die Mutter um Verzeihung, dass er sie beschuldigt hatte. Bis Natascha zu sich selbst gefunden hat, wird es wohl lange dauern, sagt Friedrich. „Dies zu vergessen, ist nicht möglich. Es ist nur möglich, dass die Erinnerung verblasst.“ Tsp

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