zum Hauptinhalt
Einsames Idyll. Im November ist Sylt verwaist.

© Jörg Modrow/laif

Sylt sucht einen Bürgermeister: Insel der wenigen

Viele gehen aufs Festland und jene die bleiben, fürchten sich: vor dem Ausverkauf, vor Wohnungsnot. Ein neuer Bürgermeister soll Sylt retten. Es tritt eine Frau an, die, wie dieser Fleck in der Nordsee, populärer ist, als ihr gut tut.

Sie hat ein Lokal vorgeschlagen, von dem es einen herrlichen Ausblick geben soll. Auf das Meer. Von oben herab. Sicher, das Meer ist toll hier. Aber nicht im November.

Alles verliert in dieser Zeit seine Farbe, wird aufgesogen vom Grau tief hängender Nasskälte. Möwen und Heidekraut, schön, ja. Aber nicht im November. Bagger am Weststrand reparieren dröhnend den Sand, schieben ihn wieder in Position. Tiefe Treckerspuren, wo sonst Strandkörbe stehen. Im November ist die Insel bis auf diejenigen verwaist, die sowieso immer da sind. Und das Restaurant, das sich Gabriele Pauli ausersehen hat, ist geschlossen. Ach herrje, sagt sie, blickt sich um.

Das Meer ist da. Aber das hilft jetzt auch nicht. Ein Stück weiter ist noch ein Lokal. Die Terrasse mit Glas gegen die Nordsee gepanzert, auf den Stühlen liegen Fleecedecken. Und Gabriele Pauli muss erst mal telefonieren, muss etwas klarstellen. In der Lokalzeitung steht, aus ihrem „Umfeld“ sei zu hören, dass ... Dabei habe sie hier gar kein Umfeld, erklärt sie. Das war früher. Doch die Zeiten, in denen sie sich für Positionen anderer, insbesondere Parteikollegen, verantwortet habe, seien glücklicherweise vorbei.

"Rote Rebellin" ist der Titel ihrer Autobiografie

Gabriele Pauli sieht ein bisschen zerzaust aus, während sie das sagt. Der Wind. Im harten Licht eines einzelnen Sonnenstrahls wirkt die „rote Rebellin“ – so der Titel ihrer zuletzt erschienenen politischen Autobiografie – viel zarter, als man annehmen könnte angesichts der Abwehrreflexe, die sie in ihrer bayerischen Heimat auslöst. Ihre Stimme ist leise, bescheiden. Um nicht unhöflich zu erscheinen, nimmt sie die getönte Brille ab. Unter ihrem rechten Auge zieht sich eine feine Narbe über die Wange. Pauli redet gegen das Rauschen der Wellen an. Hier sei man der Urkraft der Natur sehr nah, sagt sie. Es ist nicht zu erklären, aber als sie sich schließlich wieder zum Gehen erhebt, ist die Narbe verschwunden.

Gabriele Pauli auf Sylt.
Gabriele Pauli auf Sylt.

© dpa

Vielleicht hofft Gabriele Pauli auf mehr solcher Effekte. Es gäbe da einige Narben, die die 57-Jährige nicht mit Büchern vergessen machen kann, jetzt bietet sich ihr die Chance dazu. Denn Sylt, die beliebteste Urlaubsinsel der Deutschen, sucht einen neuen Bürgermeister.

Amtsinhaberin Petra Reiber scheidet nach 24 Jahren aus dem Westerländer Rathaus aus. Mitte Dezember findet die Wahl statt. Mit Pauli bewerben sich sechs Kandidaten, die Hälfte von ihnen sind Einheimische, sie ist die einzige Frau. Und nur Gabriele Pauli ist den Menschen außerhalb Sylts ein Begriff. Sie sei gefragt worden, weil sich offenbar nicht ausreichend gute Bewerber gefunden hätten, sagt sie.

Sylts Problem kennt man auch in Berlin

Braucht Sylt Hilfe von außen? Und was kann ausgerechnet Gabriele Pauli ausrichten?

Sylts Problem ist eines, das man auch in Berlin-Friedrichshain kennt, und in Kreuzberg, in jedem Ballungsraum, der Investoren anzieht. Die Grundstückspreise sind in schwindelerregende Höhen gestiegen. Vor allem seit der Finanzkrise. Die Reichen und Superreichen parken ihr Geld in teuren Luxusanwesen, Wohnraum wird kapitalisiert, Mietverhältnisse werden durch Eigentum verdrängt. Denn Bauland ist begrenzt auf der Insel, die zur Hälfte aus Schutzgebieten besteht. Auf Grundstücken, auf denen Einfamilienhäuser standen, mehren sich Doppelhaushälften, Siedlungen verlieren ihren gewachsenen Charakter – und die Neubauten stehen als Zweitwohnsitze meist leer. Die Sylter beklagen das heftig. Doch sobald sie selbst in die Lage geraten, ein Haus verkaufen zu können, entscheiden sie sich für das Geld – und gehen. Sie haben meist nicht die Mittel, den Bestand zu halten.

Vier Wochen bleiben den Kandidaten. Dann sind die Touristen zurück

An einem nasskalten Montag steht Gabriele Pauli in einem schwarzen Kleid am Eingang zum Raum „Nordsee“. Der befindet sich im Kongresszentrum Westerlands, Blick auf die Kurmuschel. Auf dem Tisch hinter ihr liegen Laugenbrezeln. Jedem, der von draußen zur Tür eintritt, reicht Pauli die rechte Hand, einen Stapel Blätter in der linken. „10-Punkte- Plan“, steht darauf. Und darunter: „Sylt für Sylter lebenswerter machen“. Das sollte hier gut ankommen. Denn Einheimische gibt es immer weniger auf der Insel, und die weniger Werdenden stöhnen über geschlossene Schulen, geschlossene Entbindungsstationen, fehlende Kindergärten, fehlende Feuerwehrleute. „Die Sylter wollen einen Wandel“, sagt Pauli.

Mehrere Dutzend Inselbewohner sitzen dicht gedrängt, um der Frau, die sie aus den Nachrichten kennen, leibhaftig zuzuhören. Viele haben die Sommerbräune von Menschen, die eben erst aus dem sonnigen Süden zurückgekehrt sind. Und so ist es auch. Die Einheimischen nutzen den Herbst für ihren Jahresurlaub. Noch bis Weihnachten ruhen die Geschäfte mehr oder weniger. Dann ist wieder Hochbetrieb. Vier Wochen bleiben den Bürgermeisterkandidaten in diesem Tourismusschatten, um für ihre Positionen zu werben.

Ein richtiger Wahlkampf sei es eigentlich gar nicht, sagt Pauli. Dann legt sie in einer einstündigen Rede aber doch dar, warum sie als „Neu-Sylterin mit Wohnsitz auf der Insel“ geeigneter als ihre Mitbewerber sei. Die Verwaltung zu führen, traue sie sich sofort zu. Als Landrätin in Fürth hat sie 18 Jahre einem Apparat vorgestanden, der dreimal so groß war wie die Gemeinde Sylt, zunächst hoch verschuldet, aber dann von ihr saniert. Was den Rest betrifft, ist sie vorsichtiger.

Die Insel und Pauli - beide populär

Die Bayerin war vorher nie auf Sylt gewesen. Sie brauchte eine „Informationsphase“, um herauszufinden, ob sie gute Lösungen für die Probleme vor Ort haben könne, sagt sie. Die zehn Punkte ihres Programms seien eigentlich die Ideen der Sylter, mit denen sie gesprochen habe. Sie kann also schon mal sehr gut zuhören.

Wie sie dort steht, auf einem Pult ihre Rede liegend, drängt sich die Frau nicht gerade auf. Sie habe einen „kleinen Hader“ mit Edmund Stoiber gehabt, sagt sie lächelnd. Ein Mann mit Baseball-Käppi und Safari-Jacke nutzt gleich die Gedankenpause Paulis, um eine Frage loszuwerden. Sie habe so wenig von sich erzählt… – „Hab ich?“ – Ja, sagt er, beispielsweise nicht, wofür sie das Bundesverdienstkreuz erhalten habe. – „Oh.“

Tja. Also, was man sich von Gabriele Pauli erwartet, ist vielleicht einfach nur, bekannt zu sein. Die Insel ist es schließlich auch. Und wie Popularität auf Menschen wirkt, kann man an beiden studieren. Gabriele Paulis Wahlergebnisse sind jedenfalls immer überdurchschnittlich gut ausgefallen. Und das, obwohl der fragilen Frau der monströse Ruf einer Vatermörderin vorauseilt. Bis heute wird ihr Edmund Stoibers Sturz angelastet.

Dabei war sie 2006 nur das Kind, das wie im Märchen die Wahrheit über den Kaiser aussprach. Stoibers Zeit war abgelaufen. Pauli forderte als CSU-Vorstandsmitglied, er möge der Partei nicht abermals einen Wahlkampf mit ihm aufnötigen. Und sie regte die Befragung der Parteibasis über den nächsten Spitzenkandidaten an. In einem Internetforum stellte sie diese Position zur Diskussion.

Die CSU war perplex. Internet. Diskussion. Das war neu.

Hang zur geschmacklosen Geste

Stoibers Büroleiter in der Staatskanzlei holte Erkundigungen ein. Rief einen Parteikollegen in Gabriele Paulis Fürther Kreis an, um sich nach kompromittierenden Männergeschichten und möglichen Alkoholproblemen zu erkundigen. Sie machte das als „Bespitzelung“ publik. „So wichtig sind Sie nicht“, meinte Stoiber daraufhin, musste seinen Freund aber doch fallen lassen. Es war der Anfang vom Ende einer Ära. Aber für sie selbst ging es in der CSU auch nicht weiter.

Beim traditionellen Aschermittwochstreffen der CSU machte sich Hexenjagd-Stimmung Luft. „Pauli raus!“, skandierte der Saal, „Pauli raus!“ Während sie als Vorstandsmitglied auf dem Podium saß. Markus Söder, ihr Intimfeind und damals Generalsekretär, stand am Rednerpult und rief es auch. Im Publikum wurden Transparente hochgehalten. Wenn der Teufel nicht mehr weiter wisse, dann schicke er ein Weib, stand darauf. Niemand wollte mehr mit ihr in Verbindung gebracht werden. In ihr muss sich in diesem Moment etwas aufgerichtet haben, sie kandidierte jetzt sogar für den Parteivorsitz. Es sei die einzige Möglichkeit gewesen, den Parteitagsdelegierten ihre Reformvorschläge zu unterbreiten, erinnert sie sich. Jeder ihrer Anträge war zuvor abgeschmettert worden, mit nur einer Gegenstimme, ihrer eigenen.

Nach dem Parteiaustritt irrlichterte sie durch die bayrische Landespolitik mit einem gewissen Hang zur geschmacklosen Geste. In Latex ließ sie sich ablichten. Auf Motorrädern posierend. Zu ihren Lieblingsformulierungen zählt, sich nicht verbiegen lassen zu wollen. Aber ist das eine politische Qualität? Auch bei den Freien Wählern, für die Pauli in den Landtag einzog mit dem besten Ergebnis, das je ein Politiker außerhalb der Staatsregierung in Bayern erzielt hat, fand sie keine politische Heimat. Zum Schluss saß sie als Parteilose zwischen den Landtagsabgeordneten. 2013 schied sie aus. Da kam der Anruf eines Sylter Kochs.

Pauli hat ein Gespür für Unzufriedenheit. Von einem 17-jährigen Auszubildenden erzählt sie ihrem Publikum. Er sei in einem Hotel angestellt, 14-Stunden-Tage, und bewohne ein winziges Zimmer darin. Die Hälfte seines kümmerlichen Lohns müsse der Junge für die Miete aufwenden. Die Sylter kennen solche Geschichten zuhauf. Deshalb wird es jetzt sehr laut, alle reden durcheinander. Gabriele Pauli sagt in den Tumult hinein, dass man Sylt nur noch wahrnehme als Insel der Spekulanten und der Wohnungsnot. Sie habe Betriebswissenschaften studiert und dann mit dem Optimierungswahn gebrochen. „Man kann nicht alles mit Geld begründen“, sagt sie, „es geht auch darum, dass Menschen sich wohlfühlen.“

Eine Urlauberin entschuldigte sich jüngst - dafür, dass sie da war

Da horcht die Versammlung auf. Lebensqualität ist, womit Sylt für sich wirbt. Und da steht eine Frau, die versteht und ein Herz hat? Das ist das Bild, das Gabriele Pauli ins Rathaus tragen könnte. Obwohl es nur ein Verwaltungsjob wäre und politische Ideen keinen Einfluss auf die Verwaltungsführung haben dürfen, wünschen sich die Sylter Antworten auf die Frage, wie es mit ihrer Insel weitergehen soll. Warum nicht von einer Frau, die wie die Insel populärer ist, als ihr gut tut.

„Der Immobilienkapitalismus zerstört hier seine eigene Grundlage“, sagt Petra Reiber. Sie hat den Job noch, für den Pauli sich stark macht. Seit sie 1991 aus Aschaffenburg auf die Insel kam, weiß sie um das Dilemma des guten Rufs. „Ich habe mich lange gefragt“, fährt sie fort, „ob wir den Wettlauf gegen den Kapitalmarkt gewinnen können. Ich hatte da meine Zweifel.“ Die Bürgermeisterin arbeitet in einem nüchtern möblierten Büro mit erhabenem Blick auf den Marktplatz. Eine attraktive Frau mit blonden Locken und gewinnendem Lächeln. Die 57-Jährige trägt hohe Stiefel und ein Jackett mit Samtkragen. Den Schreibtisch hat sie zu einem Stehpult hochgefahren. Der Rücken bereitet ihr Probleme. Ihr Amt gibt sie auf, weil sie sich abgekämpft fühlt. Von einem „Knochenjob“ spricht sie und meint, dass keiner der Bewerber so recht eine Vorstellung davon habe, wie hoch die Arbeitsbelastung sei. „Wir sind hier klein strukturiert“, sagt sie, „mit den Herausforderungen einer größeren Stadt.“

Chance "nach Hause zu kommen"

Wenn man Reiber nach ihren persönlichen Erfolgen fragt, dann nennt sie den Erwerb von Wohnimmobilien vom Bund, ein „großer Kraftakt“. Während andere Kommunen ihr Tafelsilber veräußern, machen sie es hier umgekehrt. Es wird zugekauft. „Wir sind dabei“, sagt Reiber, „den Stand an Einheimischen von vor der Finanzkrise und der extremen Kapitalisierung des Wohnraums aufzufüllen. Denn wir brauchen diese Menschen, um die Urlauber versorgen zu können.“

Die sozialen Unterschiede auf der Urlaubsinsel sind zum beherrschenden Thema geworden. Als ein japanischer Koch im Mai 2013 von zwei Handwerkern vor einem Nachtklub in Westerland tödlich verletzt wird, wirft das ein Licht auf die Härte des Umgangs, die Härte des Geschäfts. Die Arbeitsbedingungen gehen für viele an die Belastungsgrenze. Der Lohn ist zu niedrig, um auf der Insel leben zu können, während es ein paar wenige Gewinner gibt.

Neulich hat eine Urlauberin sich bei Nikolas Häckel entschuldigt. Dafür, dass sie überhaupt da sei. Er verstand nicht recht. Ja, sagte die Dame zu dem 40-jährigen Sylter, der in einem Haushalt mit Gästezimmern groß geworden ist und es nicht anders kennt, als dass Fremde unter demselben Dach, unter dem auch er lebte, Erholung suchten. Ja, sagte sie also, es täte ihr leid, dass Leute wie sie nun dafür sorgten, dass Leute wie er, „Sylter mit Stammbaum“, die Insel verlassen müssten.

Es sei etwas sehr verkehrt gelaufen, wenn es so weit kommt, sagt Nikolas Häckel jetzt und schiebt sein Wahlkampfmaterial über den Tisch. Häckel ist Verwaltungsfachmann. Er war zunächst Bauamtsleiter auf der Insel, schaffte sich als Mitglied der Fusionskommission bei der Gemeindereform gleicht selbst mit ab. In Kronshagen bei Kiel fand er einen neuen Job. Ein Inselvertriebener. Nun sieht er seine Chance, „nach Hause zu kommen“.

Die Familienpension prägte seine Kindheit

Sein Vater betreibt noch immer die Familienpension, die Häckels Kindheit und sein ganzes zuvorkommendes Wesen geprägt hat. Er ist ein höflicher Schnellsprecher, dessen Worte sich im Mund überholen, so eilig hat er es. Er will der Insel so viel geben von seinem Wissen als Mentalcoach und Hochschullehrer, was er auch noch ist. Seinen Jahresurlaub und ein kleines Vermögen setzt er nun ein. Er mache das nur dieses eine Mal. Es müsse klappen. Sein Konterfei lächelt als einziges seit Wochen von Wahlplakaten. Schon früh konnte er die SPD und weitere Kleinparteien hinter sich bringen.

Aber da ist die Sache mit dem Rettungswagen. Die Leute drängen ihn, bei einem Wahlerfolg auf seine freiwilligen Einsätze als Rettungssanitäter zu verzichten. Im Moment übernimmt er samstags eine 24-Stunden-Schicht. Das soll er aufgeben? Es ärgert ihn.

Wenn sich Häckel seine Rolle vorstellt, dann wählt er Formulierungen wie „in Ruhe Ideen ausarbeiten“ oder „unaufgeregt präsentieren“. Als widerspräche nicht beides schon seinem Naturell. Aber es ist der Versuch, die Insel nicht noch weiter Glücksrittern zu überlassen. Was den Rettungsjob betrifft, findet Häckel, sei das seine Privatsache. Ein Hobby. „Die Menschen nehmen mich doch gar nicht wahr in der rot-weißen Jacke. Die wollen kompetent betreut werden.“

Ausgefochten ist das noch nicht. Und vielleicht ist Verschwinden nicht die beste Taktik im Kampf mit einer, die nur zu gern wieder auftauchen möchte.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false