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Panorama: "Tabu": Odysseus machte es richtig

Als eine viktorianische Matrone davon hörte, dass der Mensch vom Affen abstamme, bemerkte sie: "Wir wollen hoffen, dass das nicht stimmt, aber falls es stimmt, sollten wir beten, dass es nicht allgemein bekannt wird." Roger Shattuck stimmt der Frau zu: Der Ausspruch artikuliere die elementare Frage, ob es ein Wissen gibt, über das wir besser nicht verfügen sollten.

Als eine viktorianische Matrone davon hörte, dass der Mensch vom Affen abstamme, bemerkte sie: "Wir wollen hoffen, dass das nicht stimmt, aber falls es stimmt, sollten wir beten, dass es nicht allgemein bekannt wird." Roger Shattuck stimmt der Frau zu: Der Ausspruch artikuliere die elementare Frage, ob es ein Wissen gibt, über das wir besser nicht verfügen sollten. Die Rede ist vom Tabu. Das aus dem Polynesischen kommende Wort bedeutet einerseits: heilig, geweiht, andererseits: gefährlich, verboten, unrein. In "Totem und Tabu" schreibt Sigmund Freud, dass sich die Zusammensetzung "heilige Scheu" mit dem Sinn des Tabus decken würde. Verliert der Mensch die Scheu, stößt er womöglich Türen auf, hinter denen Katastrophen lauern. Im 21. Jahrhundert wissen wir von der verheerenden Wirkung der Atombombe und stehenvor der Frage, ob wir Menschen klonen sollen. Wir haben keine Vorstellung davon, was in die Tat umgesetzte Erkenntnis bewirkt. Aber die ungezähmte Neugier verdrängt immer wieder die Bedenken. Mit Blick auf die Gegenwart ruft Shattuck die Mythen der Vergangenheit ins Bewusstsein, die vom Übertreten von Tabus handeln.

Adam und Eva wurden aus dem Paradies geworfen, weil sie sich nicht beherrschen konnten und von der verbotenen Frucht aßen. Prometheus stahl dem Göttervater Zeus das Feuer, um es den Menschen zu bringen. Das gestohlene Feuer, Symbol für menschliche Fähigkeiten, machte Prometheus zum Wohltäter der Menschheit. Aber dann kam Pandora und brachte den Menschen jene Büchse voller Kummer, Sorgen und Bösem. Orpheus verlor Eurydike, weil er sich trotz des Verbots zu ihr umdrehte. Erst Odysseus durchschaute die Gefährlichkeit von zu viel Wissen. Er ließ sich fesseln und entging dem betörenden Gesang der Sirenen, die ihm das Weltwissen versprachen. Odysseus hatte auf Circes Rat gehört. Der säkularisierte Mensch muss sich selbst warnen und beschränken.

Montaigne und sein Schüler Blaise Pascal prägten den Begriff der "porté", der Reichweite, die unsere Fähigkeiten und Grenzen bestimmt. Wir sollten mit Hand und Arm nicht weiter greifen wollen als wir greifen können. Außerdem bringt es uns nichts: Selbst auf dem höchsten Thron der Welt können wir nur auf unserem eigenen Hintern sitzen, stellte Montaigne lapidar fest. Und Charles Darwin schrieb: "Das Geheimnis aller Dinge ist unlösbar für uns, und ich zumindest muss mich damit abfinden, ein Agnostiker zu sein." Er gab zu, die "wahre" Wirklichkeit hinter den äußeren Erscheinungen nicht erkennen zu können. Das Dilemma von Faust hat Goethe so beschrieben: "Der Handelnde ist immer gewissenlos; es hat niemand Gewissen als der Betrachtende". Erfahrung ist der einzige Weg zu menschlicher Erkenntnis, doch jede Erfahrung zieht Schuld nach sich.

Hippokratischer Eid für die Wissenschaft

Nicht die Erkenntnis an sich kann unheilvoll sein, sondern die Art und Weise, in der Menschen sie sich aneignen, schreibt Roger Shattuck, detailliert das Für und Wider von Tabus abwägend. Doch er gibt zu bedenken: Nur in einer Situation, die so künstlich ist wie die Fahrt des Odysseus, lässt sich das Wissen von seiner Aneignung und Anwendung unterscheiden. Vielleicht, so der Autor, könnte ein hippokratischer Eid die Wissenschaftler zu verantwortungsbewussterer Forschung anhalten. Und vielleicht sollten sie nicht zu hastig und übermütig zu den Rätseln und deren Lösung eilen.

Gegenüber den Schriften des Marquis de Sade bezieht Shattuck eindeutig Stellung. Für ihn ist der als revolutionärer Philosoph gefeierte "göttliche Marquis" vor allem der Verfasser von "Gewaltpornographie". De Sade ist aktuell. Gerade ist der Film "Quills" in die Kinos gekommen, der den Marquis als Held im Kampf um die Freiheit der Kunst verteidigt. Der Film hat Fragen aufgeworfen, die schon im Frankreich des 18. Jahrhunderts gestellt wurden: Was erträgt eine Gesellschaft und was verdrängt sie, was ist akzeptabel und was wird als so abstoßend empfunden, dass es aus ethischen Gründen (Nachahmungseffekt) ausgespart werden sollte? Wann muss die Freiheit der Rede und des ästhetischen Ausdrucks dem Schutz der Menschenwürde weichen?

Zur Zeit wird viel von Tabus geredet. Darf man menschliches Verhalten rund um die Uhr beobachten wie in den Containern? Darf man die Innenansicht des Menschen zur Schau stellen und zur Show machen wie in der Ausstellung "Körperwelten"? Im Sog dieser spektakulären Anlässe, die dem Verstehen und dem Wissen dienen sollen, wird nicht gefragt, jedenfalls nicht laut, was Erkenntnis eigentlich sei, bis zu welchem Grad sie möglich und sinnvoll ist. Alles Lebende, so Nietzsche, braucht eine umhüllende Atmosphäre, einen Dunstkreis des Geheimnisvollen. Und in der "Suche nach der verlorenen Zeit" schreibt Marcel Proust, dass die innerste Sphäre durch unser lärmendes Herantreten längst entleert ist.

Epilog: Der Fortpflanzungswissenschaftler Severino Antinori verkündet gerade, er wolle in zweieinhalb Jahren den ersten menschlichen Klon erzeugen. Moralische Vorbehalte sinken, schließlich werde beim Klonen, anders als bei der Atombombe, Leben nicht vernichtet, sondern geschaffen. Die dazugehörige Industrie läuft auf Hochtouren. Über Preise des "Klonierens" wird bereits wild spekuliert. Roger Shattuck mag wohl denken: Wenn es schon nicht zu vermeiden ist - geht es nicht etwas langsamer?

Gabriele Schmelz

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