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Panorama: Tiefe Zweifel

Ein Richter hat festgestellt, dass die untergegangene „Estonia“ früher geheime Militärfracht transportierte

Der Verdacht, dass die gesunkene Ostseefähre „Estonia“ geheime Militärfracht an Bord hatte, war eine ganz frühe Vermutung von Opferorganisationen. Von Beginn an wurde diese Vermutung zurückgewiesen. Da mutet es wie ein Paukenschlag an, dass jetzt ein neuer Untersuchungsbericht offiziell bestätigt, was immer als Spinnerei abgetan worden war: Die „Estonia“ hat entgegen den Behauptungen der Regierungen wiederholt geheime Militärfracht transportiert. Zweites Ergebnis der neuen Untersuchung: Am Tag des Untergangs hat sie keine geheime Militärfracht transportiert.

Damit bleibt die Ursache für die schwerste zivile Schifffahrtskatastrophe im vergangenen Jahrhundert in Europa weiterhin ungeklärt. Bei dem Untergang der „Estonia“ am 28. September 1994 kamen 852 Menschen ums Leben, nur 137 konnten gerettet werden. Zweimal kurz vor dem Unglück, am 14. und 20. September, wurde die „Estonia“ für Militärtransporte genutzt. Das hat der von der schwedischen Regierung beauftragte Richter Johan Hirschfeldt für die neue Untersuchung herausgefunden. Nachdem der öffentlich-rechtliche schwedische Fernsehsender SVT im vergangenen Herbst enthüllen konnte, dass die „Estonia“ im Untergangsmonat mindestens zweimal für Militärtransporte genutzt wurde, hatte Schwedens Premier Persson den Richter Hirschfeldt mit der Untersuchung genau dieser Vorgänge beauftragt.

Da der Bericht keine geheime Militärfracht am Tag des Untergangs nachweist, ist er für die Angehörigen und ihre Organisationen unbedeutend. Deshalb hielt sich die Aufmerksamkeit in Schweden in Grenzen, obwohl alleine schon die Feststellung durch einen Richter, dass es überhaupt im wiederholten Fall militärische Geheimfracht gab, Anlass für Misstrauen bietet. Die Angehörigen fordern seit jeher eine Untersuchung von unabhängigen Gutachtern, die weder von einem Unternehmen noch einer Regierung abhängig sind. Eine solche Untersuchung wurde ihnen verwehrt. Der offizielle Bericht der beteiligten Regierungen gibt als Ursache des Unglücks mangelnde Wartung, Konstruktionsfehler und Fahrfehler an.

Viele Fragen bleiben auch nach dem neuen Bericht offen. Hirschfeldt hat nur herausfinden können, dass an den beiden Tagen im September 1994 tatsächlich elektronisches Militärmaterial mit der „Estonia“ aus Estland nach Schweden transportiert wurde. Auftraggeber für die Transporte war das schwedische Militär. Über die Gründe für die heimlichen Transporte kann nur spekuliert werden: Vermutlich waren schwedische Militärs nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und ihrem Rückzug aus den baltischen Staaten an sowjetischer Militärtechnologie interessiert. Damit die heimlichen Transporte nicht aufflogen, kamen der damalige Oberbefehlshaber der schwedischen Streitkräfte und der Chef der Zollbehörde überein, die Transporte ohne Kontrolle passieren zu lassen. Das ist von Zollbediensteten mittlerweile bestätigt worden.

Hirschfeldts Untersuchung beantwortet keine der folgenden Fragen: Waren auch andere Geheimdienste in die Militärtransporte verwickelt? Um was hat es sich konkret bei den Transporten gehandelt? Um Raketen? Sprengstoff? Wie oft wurden die Transporte mit der „Estonia“ durchgeführt? Fragen, die unbeantwortet bleiben, auch weil Hirschfeldt nur einen sehr eingeschränkten Untersuchungsauftrag von der Regierung erhalten hat. „Es war nicht meine Aufgabe zu untersuchen, ob Geheimdienste anderer Länder mit der ,Estonia’ Militärmaterial transportiert haben“, so der Richter.

Die Ergebnisse seines Untersuchungsberichts werden ebenso verpuffen, wie andere zuvor. Viele Menschen in den am stärksten vom Untergang betroffenen Ländern Schweden, Estland und Finnland haben seit Jahren den Eindruck, dass die Wahrheit vertuscht werden soll. Es darf am Wrack nicht mehr getaucht werden. Die schwedische Regierung wollte es sogar einbetonieren, damit endlich Ruhe herrscht.

Helmut Steuer[Stockholm]

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