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Willi

© Kai-Uwe Heinrich

Hunde in Berlin: Mein Leben an der Leine

Hundehaltung in der Großstadt? Unverantwortlich, dachte unser Autor früher... Dann erlebte er den Wau-Effekt

Die Freunde haben komisch geguckt. Die Schwester argwöhnte: „Aber nicht wirklich, oder?“ Wer in Berlin gesteht, nach Jahren der Skepsis unter die Hundehalter gegangen zu sein, muss mit verhaltenen bis feindseligen Reaktionen rechnen. Als habe man eben verkündet, seine Freizeit künftig biertrinkend mit Punkern auf dem Alexanderplatz verbringen zu wollen.

Vor sechs Monaten zählte ich noch selbst zu den Zweiflern. „Hunde gehören nicht in die Großstadt“, der Satz kam gelegentlich auch aus meinem Mund, wenn Vierbeiner bei mir im Kreuzberger Bergmannkiez Häuserecken vollpinkelten.

Dann lernte ich Willi kennen. 37 Kilo, Straßenköterlook, extrem feuchte Schnauze. Seine Besitzerin suchte einen Freiwilligen zum Dog-Sharen. Jemanden, der auf Willi aufpasst, wenn sie kellnert oder mal verreist oder ins Kino möchte. Weil die Besitzerin so nett aussah, drängte ich mich auf. Seither ist das Leben in Berlin ein anderes geworden. Oder besser: Es ist, als lebte ich in einer anderen Stadt.

Fünf Wahrheiten.

Erstens. Hundehalter kennen sich besser in ihrem Viertel aus. Wer hundelos die Stadt durchquert, hat in der Regel ein konkretes Ziel im Sinn, der Weg dorthin ist bloß eine Aneinanderreihung von Hindernissen und Zumutungen. Als Hundehalter mutiert man zum Dauerflaneur. Entdeckt Schaufenster und Straßenbäume und Graffiti, von denen man nie Notiz genommen hat. Gassigehen öffnet die Augen.

Zweitens. Wer einen Hund hat, wird automatisch Teil einer zwanglosen und doch verschworenen Gemeinschaft, der Community der Hundehalter. Wir grüßen einander. Wir lachen jedes Mal aufs Neue, wenn sich unsere Hunde beschnuppern und sich dabei die Leinen verknoten. Wir geben uns Tipps. Nach zwei Wochen Willi wusste ich, wo in meiner Nachbarschaft Füchse wohnen und wo es sensationell guten Cappuccino forte gibt. Die Namen meiner Wohnungsnachbarn kenne ich bis heute nicht. Aber ich kenne Frau Schneider und Herrn Ziemert und Tom, das ist der mit Sandy, die so arg an der Leine zerrt.

Ein Haufen Arbeit

Schnüffeln
Schnüffeln zwischendurch

© Kai-Uwe Heinrich

Drittens. Außenstehende werden das kaum glauben, aber: Die allermeisten Hundebesitzer sind verantwortungsbewusste Leute. Sie entsorgen die Haufen ihrer Tiere in Plastiktüten. Dass man in Berlin trotzdem so viele Köttel auf dem Gehweg sieht, liegt daran, dass die Hunde der verantwortungslosen Minderheit täglich Nachschub produzieren. In jeder Gesellschaft leben wenigstens zehn Prozent Idioten – für Berliner Verhältnisse ist das vermutlich optimistisch kalkuliert –, und auch solche Menschen haben Hunde.

Viertens. Das Entsorgen von Haufen kostet wirklich Überwindung. Es sollte Orden dafür geben.

Fünftens. Ein glückliches Hundeleben in der Großstadt ist definitiv möglich. Solange es Menschen gibt, die mit ihrem Tier durch die Straßen ziehen, Parks aufsuchen und ins nächstgelegene Auslaufgebiet fahren. Die auch achtgeben, mit ihrem Hund nicht durch Glasscherbenfelder zu laufen. Die zehn Prozent Idioten werfen nämlich gern Getränkeflaschen auf den Gehweg, besonders am Wochenende. In der Stadt haben Hunde weit mehr Kontakt zu Artgenossen als auf dem Land. Bei jeder Gassirunde wird beschnuppert und gespielt. Willi kennt mehr Hunde, als er in der Provinz je kennenlernen könnte. Ich wette, eine Menge Hunde auf Bauernhöfen und in Zwingern würde gern nach Berlin ziehen.

Es dauert eine Weile, bis man sich als plötzlicher Hundehalter in seiner eigentlich vertrauten Stadt wieder zurechtfindet. Man muss zum Beispiel lernen, in welche Geschäfte man seinen Hund mitnehmen darf, in welche nur manchmal und in welche auf keinen Fall. Es reicht nicht, an der Eingangstür nach entsprechenden Schildern zu suchen. Einige Ladenbesitzer haben keine und empören sich, wenn man reinkommt. Andere sind zu Ausnahmen bereit und entpuppen sich plötzlich als massive Hundeknuddler. Willi hat sich inzwischen Zutritt in etliche Läden erwedelt, die eigentlich Menschen vorbehalten sind.

Ein Hund verleiht Sicherheit, besonders an Orten, an denen man sich sonst eher unwohl fühlt. Zum Beispiel bei Dämmerung im Görlitzer Park, wenn die meisten Besucher nach Hause gehen und bloß die Dealer und andere nicht vertrauenswürdige Gestalten übrig bleiben. Neulich zogen drei aufdringliche Jugendliche umher, sie wollten Fremde überreden, eines ihrer geklauten Fahrräder zu kaufen. Um uns machten sie einen Bogen. Es hat manchmal Vorteile, dass man Willi seine Harmlosigkeit nicht ansieht.

Das Dilemma ist, dass einem erst klar wird, wenn man die Seiten wechselt vom Hunde-Skeptiker zum Hunde-Halter: Andere Menschen können nicht wissen, ob das Tier vor ihnen gefährlich ist – und ärgern sich, wenn der Besitzer die Leine zu lang lässt oder darauf verzichtet. Umgekehrt möchte man seinen sozial verträglichen Hund nicht die ganze Zeit stramm bei Fuß gehen lassen, bloß weil sich Passanten sonst unnötigerweise aufregen könnten, weil sie einen für verantwortungslos halten. Wer sagt: „Der tut nichts, der ist ganz lieb“, bekommt garantiert ein: „Das behaupten sie alle“ zur Antwort. Ich kann es keinem verdenken, ich habe das bis vor sechs Monaten selbst gesagt.

Die Leinenpflicht

Vielleicht sollte man für jeden Hund einen Unbedenklichkeits-Check einführen. Wer den nicht besteht, muss Maulkorb tragen. Dann könnte im Gegenzug die unsinnige Leinenpflicht in Parks abgeschafft werden, die Hundebesitzer zwingt, ständig nach Patrouillen des Ordnungsamts Ausschau zu halten – und die Blicke von hundelosen Passanten zu ertragen, die einen asozial finden. Beides nervt gewaltig.

Entfiele die Leinenpflicht in Parks, könnte man sich auch von den fragwürdigen Orten fernhalten, die auf Neu-Besitzer so exotisch wirken, dass die ersten Besuche garantiert verstören: Hundeauslaufplätze, die einzigen Flecken Wiese in Berlin, auf denen man seinen Hund legal frei laufen lassen darf. Hier drängen sich nicht nur die Tiere, sondern auch die zugehörigen Menschen auf engem Raum. Darunter leider solche, denen man auf der Straße eher ausweichen würde. Etwa Labertaschen, die jeden Fremden, der sich bis auf fünf Meter nähert, gnadenlos zutexten. Oder diejenigen, die nicht ertragen können, dass Willi ihren Hund beschnuppert, weil der eigentlich gerade dringend einen Ball apportieren soll und jetzt in seiner Konzentration gestört wird. Oder homophobe Halter, die Panik kriegen, sobald zwei Rüden zu vertraut spielen.

Gelegentlich kommt es auf Auslaufplätzen zu offenen Streitigkeiten unter Haltern. Dann dauert es nur Sekunden, bis der eine dem anderen vorwirft, „nichts von Hunden“ zu verstehen. Der Beschuldigte wird natürlich erwidern, es verhalte sich genau andersherum. Dann kann man fast den Eindruck bekommen, Hunde vertrügen die Enge einer Stadt viel gelassener als ihre Besitzer.

Den Satz „Hunde gehören nicht in die Großstadt“ höre ich immer noch. Doch mir ist aufgegangen, dass er stets von Menschen gesagt wird, die gar keine Ahnung davon haben, wie es sich mit Hund in der Großstadt lebt.

Schon mal eine Schildkröte gesehen, die wie Rambo auf Hunde losgeht? Oder einen Papagei, der einen Retriever schnäbelnd füttert? Falls nicht, klicken Sie einfach die vielen Videos im Blog von Tagesspiegel-Redakteur Sebastian Leber an. Zu finden unter:

www.tagesspiegel.de/tierfreaks

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