Tödliche Querulanz: Lieber sterben
Der Todesschütze von Dachau tut alles, um sich und seine Tat dem Urteil der Justiz zu entziehen. Der hasserfüllte Mann, der dem ersten Gerichtstag fernblieb, indem er sich operieren ließ, wurde am Dienstag gegen seinen Willen auf dem Krankenbett in den Gerichtssaal gefahren.
In der Untersuchungshaft hat man ihm zuerst das linke Bein abgenommen und dann auch das rechte. Deshalb ist Rudolf U., der Todesschütze von Dachau, noch am Leben. Ansonsten wäre der zuckerkranke Mann längst an einer Blutvergiftung gestorben, ist sich der Chirurgieprofessor Malte Ludwig in seinem Gutachten für das Münchner Landgericht sicher. Dennoch hat der 55-jährige und einst 160 Kilogramm schwere Täter alles getan, um so krank zu werden, dass er sich nicht vor Gericht verantworten muss.
Dem ersten Prozesstag am Montag war er ferngeblieben, um sich noch einmal operieren zu lassen. Gestern jedoch, am zweiten Verhandlungstag des Mordprozesses, wurde er gegen seinen Willen im Krankenbett zum Prozess vorgeführt – und gestand die Tat, die im Januar dieses Jahres republikweit für Entsetzen gesorgt hatte. „Ich habe den Staatsanwalt erschossen“, sagt der einstige Fuhrunternehmer. In einem kleinen Saal des beschaulichen Dachauer Landgerichts ist das geschehen, 20 Kilometer nordwestlich von München. Es war ein Verfahren, wie täglich unzählige in ganz Deutschland geführt werden. Wegen der Hinterziehung von Sozialversicherungsabgaben wurde U. zu einer Bewährungsstrafe verurteilt, als er die Pistole zückte. Und abdrückte. Der Richter konnte sich unter den Tisch wegducken, aber der 31-jährige Staatsanwalt Tilman T. wurde von zwei Kugeln getroffen und starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus.
Als einen Mann, „der sich nie etwas sagen ließ“, beschreibt der Gerichtspsychiater Henning Saß den Täter. Immer wieder wurde er in Prozesse verstrickt. Mehr und mehr habe er „fanatisch-querulatorische“ Züge entwickelt. Zum Schluss war er allein, mittellos, wegen eines Schlaganfalls gehbehindert. Und voller Hass. Seinem Verteidiger Maximilian Kaiser gab er als Motiv an, dass er häufig von der Justiz schlecht behandelt worden sei. Der Prozess in Dachau habe dann „das Fass zum Überlaufen gebracht“. Vor Gericht gesteht er nun, dass er neben dem Staatsanwalt auch den Richter töten wollte – nicht aber seine Anwältin, wie ihm in der Anklage vorgeworfen wird. Mit der war er vor dem Prozess und den Todesschüssen noch im Café gesessen, hatte zwei Bier getrunken und war immer lauter und aggressiver geworden. 19 Mal habe man ihn verurteilt, sagt der Mann mit den grauen Haaren und der bleichen, eingefallenen Haut nun, der leicht erhöht auf einem gelben Kopfkissen liegt.
Genauso störrisch und renitent wie vor der Tat hat sich Rudolf U. dann in der Untersuchungshaft benommen. „Er hat mit dem Leben abgeschlossen, er will sterben“, sagt sein Anwalt. In einer Patientenverfügung ist festgelegt, dass er außer Schmerzmitteln jede medizinische Behandlung ablehnt. U. aß und isst auch nicht mehr richtig – nur noch Milch, Chips und Schokolade nimmt er zu sich. Dennoch hat man ihn dazu gebracht, in die Amputationen einzuwilligen. Allerdings lehnte er dann das Anlegen eines Verbandes ab und ließ die verschmutzte Bettwäsche nicht wechseln. Ist das Prozesstaktik? Will Rudolf U. sich so krank machen, dass nicht verhandelt werden kann? Dass er nicht als Mörder zu lebenslanger Haft verurteilt wird? Offensichtlich will er lieber sterben, als sich und seine Tat der Beurteilung der Justiz zu unterstellen. Die Kammer hat entschieden, dass er seine Verhandlungsunfähigkeit absichtlich herbeigeführt hat – in solch einem Fall kann das Verfahren auch ohne den Angeklagten geführt werden.
Im Gerichtssaal sitzt auch ein älterer, hagerer Mann. Es ist der Vater des erschossenen Tilman T. Und eine junge Frau mit blondem Haar, ganz in Schwarz gekleidet – die Witwe des Staatsanwalts. Kurz vor der Tat hatten sie geheiratet, sie ist Amerikanerin. Sie will, so erzählt ihre Rechtsanwältin, trotz allem in München bleiben „und ein neues Leben aufbauen“.