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© dpa

Tsunami-Gedenken: "Heute hätten wir eine reelle Chance, sie zu warnen"

Mit deutscher Hilfe wurde in Jakarta ein modernes Tsunami-Warnsystem aufgebaut. Dagny Lüdemann hat die Spezialisten besucht – und plötzlich bebte die Erde auf Sumatra.

Für die Indonesier, die in der Tsunami-Warnzentrale in Jakarta arbeiten, ist der 26. Dezember ein besonderer Tag. Nicht, weil Weihnachten ist – die meisten sind Muslime – sondern, weil an diesem Tag vor fünf Jahren ein gewaltiges Seebeben ihre Heimat erschütterte. Mehrere dadurch ausgelöste Flutwellen rissen 230.000 Menschen in den Tod, davon waren mehr als die Hälfte Indonesier.

"Am 26. Dezember findet traditionell eine kleine Gedenkfeier hier im Warnzentrum statt", sagt Horst Letz den Journalistinnen, die aus Deutschland zu Besuch sind. Der Geophysiker ist der Technische Leiter der Zentrale des Indonesisch-Deutschen Tsunami-Frühwarnsystems GITEWS, das unter Federführung des Geoforschungszentrums Potsdam (GFZ) errichtet wird. Einige seiner Kollegen kannten jemanden, der in dem Tsunami umgekommen ist oder haben Freunde, die Angehörige verloren haben.

Seit November 2006 lebt Horst Letz hier, gleich neben dem Institut, und kann sich inzwischen auf "Bahasa" verständigen, was einfach "Sprache" auf Indonesisch heißt.

Während viele Deutsche fernab mit geschmücktem Tannenbaum, Festtagsbraten auf dem Teller und bunt eingepackten Geschenken die Weihnachtstage genießen, ist kaum vorstellbar, dass hier in der klimatisierten mit weißen Fliesen ausgelegten Haupthalle feierliche Stimmung aufkommt. An den meterhohen Wänden flackern riesige Bildschirme, auf denen Erdbeben-Daten neben dem laufenden Programm des britischen Fernsehsenders BBC World und dem Indonesischen TV laufen. In warnendem Rot zeigen große Ziffern dazwischen die exakte Uhrzeit an.

"Wenn gerade nichts los ist, surfe ich im Internet", sagt Herr Hardiyatno, der heute Dienst an der Basisstation hat. Der Indonesier arbeitete schon seit Ende der achtziger Jahre hier. Damals stand hier noch eine einfache Erdbeben-Kontrollstation, lange bevor deutsche Wissenschaftler nach Jakarta kamen, um ein Tsunami-Frühwarnsystem aufzubauen. 

Am 16. Dezember 2004, dem Tag der Katastrophe, hatte er frei. Mit der damaligen Technik und der kleinen Mannschaft hätten Hardiyatno und seine Kollegen ohnehin niemanden retten können. Heute sind hier 60 Menschen beschäftigt. Mindestens zehn Leute müssen immer in der Zentrale sein. Sie arbeiten in Schichten à zwölf Stunden, 365 Tage im Jahr. Neben Horst Letz sind zwei weitere Deutsche in Jakarta im Einsatz: Der IT-Spezialist Michael Günther, der auch die Satelliten-Kommunikation steuert – und Wolfgang Kohl, der Feldingenieur für die Erdbeben-Messstationen. Alle anderen Mitarbeiter sind Indonesier.

"Der Platz am Hauptmonitor ist 24 Stunden am Tag besetzt ", sagt Horst Letz, der die Zusammenarbeit mit den deutschen Partnern koordiniert. "Hier laufen die Live-Daten sämtlicher Erdbeben ein", erklärt der promovierte Geophysiker und zeigt auf den Monitor. "Wer vor dem Bildschirm einschläft, fliegt raus – Fehler können wir uns nicht erlauben", sagt er, als plötzlich eine blecherne Stimme aus einem Lautsprecher ertönt: "Attention, Earthquake detected." Der Besuch aus Deutschland ist aufgeschreckt. "Was war das? Ein Erdbeben?" Horst Letz findet die Aufregung amüsant und macht ein paar Fotos von den Gästen.

Ruhig aber zügig dreht sich Herr Hardiyatno auf seinem blau bezogenen Bürostuhl in Richtung Monitor, drückt ein paar Tasten. Auf der digitalen Karte blinkt hektisch ein rotes Dreieck – mitten in der Provinz Lampung im Süden Sumatras. Ein zweites Dreieck leuchtet auf, dann ein drittes – binnen Sekunden blinken in ganz Süd-Sumatra 13 Erdbeben-Messstationen – die Warnsirenen in der Zentrale heulen.

"Keine Sorge, sehen Sie, nur ein Erbeben der Stärke 2,3", sagt Horst Letz und zeigt auf den Bildschirm, der die aktuellen Berechnungen der Magnitude anzeigt. "Von der ersten Warnung bis zur Analyse vergehen heute zwei bis fünf Minuten", erklärt der Wissenschaftler. Droht eine Flutwelle, werden die Behörden informiert. Imame verkünden dann von Minaretten den Alarm, das Fernsehen und Rundfunkstationen strahlen die Warnung aus.

Für den Ernstfall gibt es an Indonesiens Stränden heute Schutztürme, auf die sich die Menschen retten können. Die Kinder lernen in der Schule, dass man bei Tsunami-Alarm bergauf fliehen sollte. Der Ernstfall fängt für Horst Letz aber erst ab einem Erdbeben mit der Magnitude 7,0 an. "Dann springe ich allerdings auch nachts aus dem Bett."

Auf den Monitoren laufen inzwischen aktualisierte Daten ein: "Earthquake, Time: 10:46:14, Location: Southern Sumatra, Magnitude: 3,7", ist dort zu lesen. "Auch bei dieser Stärke merken die Leute das vor Ort gar nicht", sagt Letz, den der Alarm nicht zu erschüttern scheint.

Doch woher weiß der Forscher, dass dieses kleine Beben nicht eine Flutwelle ausgelöst hat, die nun auf die Küste Indonesiens zurast? Denn immerhin können Tsunamis auf dem offenen Meer eine Geschwindigkeit von 800 Kilometern in der Stunde erreichen und sich beim Auftreffen auf die Küste zu haushohen Brechern auftürmen.

"Ob ein Tsunami wahrscheinlich ist, berechnet der Computer anhand der Erdbeben-Daten und Erfahrungswerten, die wir in das System eingespeist haben", erklärt Letz. "Eine Tsunami-Welle können unsere Messbojen im Ozean erst erfassen, wenn sie dort angekommen ist", erklärt er. Und das dauert eine Weile.

"Wir messen deshalb bereits die seismischen Wellen, also die Erschütterung des Erdbebens." Die sind mit sechs bis acht Kilometern pro Sekunde viel schneller als das Wasser. Die Auswertung dieser Wellen und der GPS-Daten, die Aufschluss über die Bruchkante der Erdplatte am Epizentrum geben, erlauben den Wissenschaftlern eine genaue Einschätzung, ob ein Tsunami droht. 150 von den geplanten 160 seismischen Stationen an Land sind inzwischen in ganz Indonesien in Betrieb. 20 davon stammen aus Deutschland.

Vor dem Aufbau von GITEWS dauerte es mindestens eine halbe Stunde, um vor einer herannahenden Flutwelle zu warnen. Zu lange, um Leben zu retten. Heute können Horst Letz und seine Kollegen in Deutschland die Erdbeben-Daten auch auf dem Handy empfangen – fast in Echtzeit.

"Im Moment arbeiten wir gerade an einem Mobilfunksystem, das künftig die Bevölkerung vor Beben warnen soll", sagt er. Zu häufiger Alarm sei allerdings auch nicht gut. "Wir warnen zwar lieber einmal zu viel als einmal zu wenig – aber es darf auch nicht dazu führen, dass im Falle einer Riesenwelle niemand mehr reagiert."

Auch die Warnzentrale selbst ist für den Ernstfall ausgerüstet. Sie liegt direkt im Erdbebengebiet. "Deshalb haben wir das ganze seismische System doppelt, im Notfall werden die Ersatzrechner von einem Generatorraum aus mit Strom versorgt", sagt Letz. Das zweite Set an Computern steht auf einer Galerie im ersten Stock des Gebäudes – sie dient den Mitarbeitern außerdem als Schulungsraum. "Von hier oben bekomme ich alles mit, was in der Haupthalle passiert", sagt der Technische Leiter, sein Handy fest im Griff, als der nächste Erdbeben-Alarm losgeht. "Attention, Earthquake detected." Die Gäste wollen herunter rennen, doch der Geophysiker bleibt gelassen.

Aus der Vogelperspektive sind die Mitarbeiter in der Haupthalle zu sehen. Sie eilen zum zentralen Monitor. Immer wieder tönt die warnende Ansage aus den Lautsprechern. Im Sekundentakt laufen neue Daten ein: "Earthquake, Time: 11:44:20, Location: Celebes Sea, Magnitude: 4,7." Das System funktioniert, keine Frage.

Allerdings hat das Sicherheitsnetz eine Lücke in Sumatra – das weiß auch Horst Letz: "Dort liegen die kritischen Erdplatten so nah vor der Küste und der Stadt Padang, dass wir im Falle eines schweren Seebebens höchstens 15 Minuten Zeit hätten, bis die Flutwelle ankommt." Ähnlich erging es den Menschen im September 2009 auf der Insel Samoa. Dort traf ein Tsunami die Küste nur elf Minuten nachdem Erdstöße den Meeresgrund erschüttern hatten.

Neben den solarbetriebenen Seismografen und den GPS-Sensoren an Land gehören Bojen auf dem Indischen Ozean zu dem Netz aus Messstationen. Sie hatten im Jahr 2007 das gesamte Projekt in Verruf gebracht, da einige nicht funktionierten, abgetrieben waren oder von Einheimischen gestohlen wurden.

Außerdem fühlen sich Fische im Schatten rund um die Bojen besonders wohl. Das lockte Fischer an, die ihre Boote daran festmachten, wodurch die empfindliche Technik gestört wurde. Inzwischen hat das GFZ-Potsdam die Bojen mit Anlegestellen versehen, an denen die Fischer festmachen können, ohne dass etwas kaputt geht. Inzwischen sind 13 Bojen im Einsatz, zehn davon hat Deutschland beigesteuert. Indonesien plant den Bau weiterer Bojen – am Ende sollen es insgesamt etwa 25 sein.

"Dank der Hilfe aus Deutschland und der Bemühungen von indonesischer Seite, funktioniert das Warnsystem bereits heute zuverlässig", meint Horst Letz. Er erinnert sich noch genau an den Zweiten Weihnachtstag 2004. Auch damals saß er nicht unterm Tannenbaum, sondern am Rechner zu Hause in Berlin. Er war noch wach um zwei Uhr nachts als die Erdbeben-Meldung kam. Die Erschütterung war so heftig, dass sogar Seismografen in Deutschland sie registrierten. "Ich wusste sofort, dass eine Katastrophe geschehen war", sagt Letz.

Fünfzehn Minuten nach dem Beben riss die erste Flutwelle an der indonesischen Küste Menschen in den Tod. "Heute hätten wir eine reelle Chance, sie zu warnen", sagt der Forscher. Wenn das passiert, möchte er da sein, am Monitor. In diesem Jahr ist er trotzdem über Weihnachten nach Hause zur Familie in Berlin gefahren. Zum ersten Mal seit 2005. Neben dem Tannenbaum im Wohnzimmer rauscht der Rechner, auf dem alle Erdbeben-Daten in Echtzeit einlaufen, rund um die Uhr. "Meine Familie hat sich daran gewöhnt", sagt er.

Dagny Lüdemann

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