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Tsunami in Südostasien: Das Gedächtnis der Insel

230.000 Menschen starben 2004 bei dem Tsunami in Südostasien. Auf Simeulue dagegen, nahe am Epizentrum des Seebebens gelegen, gab es nur sieben Tote. Dort glaubt man an die Legende von der Meeresbestie – und war vorbereitet.

Der alte Mann sitzt auf der Terrasse seines Hauses und blickt auf die Straße. Die Sonne zaubert goldenes Licht in den Staub. Auf seinen Knien hockt ein Kind, sein Enkel. Der alte Mann ist zufrieden, weil er etwas sicher weiß: dass die Natur ihnen nichts anhaben kann. Am Vortag erst gab es dafür wieder einen Beweis. Da hat die Erde gebebt, wie fast jeden Tag hier in der Gegend. Nur ein winziges bisschen hat sie gebebt, kaum spürbar, und was tat das Kind? Es sprang auf und rannte, rannte in Richtung der Berge.

So haben sie es ihm beigebracht, so wird es seit mehr als 100 Jahren allen beigebracht auf Simeulue, einer indonesischen Insel, 2310 Quadratkilometer, doppelt so groß wie Rügen,150 Kilometer vor Sumatra gelegen. Deshalb starben hier nur sieben Menschen, als am 26. Dezember 2004 die Welle kam. Und deshalb kichern sie manchmal ein bisschen über den Aufwand, der im Südostpazifik bis heute mit dem Tsunami-Frühwarnsystem betrieben wird: die Bojen- und Sensorennetze, die vielen Messstationen, für die teils noch Land gekauft werden musste, das neu gebaute Haus für die indonesische Agentur für Meteorologie, Klimatologie und Geophysik, das Warnzentrum in Jakarta, zwölf Stockwerke hoch, die Konferenzen, Planungen, Schulungen, die nötig gewordenen Gesetzesänderungen, die Echtzeit-Auswertesoftware, die das Geoforschungsinstitut in Potsdam eigens entwickelt und in mehr als 100 Institutionen in 40 Länder vergeben hat, die vielen Flugmeilen, die zurückgelegt wurden zwischen Deutschland und Indonesien, die ganze Manpower, das ganze Geld. Noch immer ist das Projekt nicht abgeschlossen, gerade erst wurde die deutsche Beteiligung bis März 2011 verlängert, dann soll alles an Indonesien übergeben werden.

Der alte Mann mit der Papyrushaut, Sutan Ruswin heißt er, hätte auch ohne all das keine Angst vor weiteren Katastrophen. „Was sollte passieren? Ihr Westler braucht all die teuren Warnsysteme, wir haben unser altes Wissen.“ Wobei die Westler diejenigen sind, die der Technik vertrauen, und „wir“, das sind die Traditionalisten vom Dorf, diejenigen, die den Alten glauben. Ruswin sitzt in einem großen Holzsessel, in dem er zu verschwinden droht. Seine Augen leuchten. Die riesigen Ohren wackeln im Takt seiner Worte, als er die Legende wiedergibt, die die Menschen auf seiner Insel erzählen.

Sie sagen: Im heißen Schlund der Erde lauert eine Bestie, die zerrt an den Festen der Welt, schreit und rüttelt, warnend und zornig. Man kann sie hören, denn sie spricht zu den Menschen. Und wenn du aufmerksam bist und ihre Sprache erlernst, kannst du ihren Verwünschungen entkommen. Man gab der Bestie einen Namen: Semong – große Welle nach dem Beben. Das war im Jahre 1907.

Damals nahm eine 35 Meter hohe Welle mehr als 5000 Menschen mit ins offene Meer und verschlang sie dort. Auf Simeulue schwor man sich, das niemals zu vergessen. Der Semong ist in die Mythen und Erzähltraditionen Simeulues eingegangen, denn allen war klar, dass er eines Tages wiederkommen würde. Die Geschichten bekommen Kleinkinder wie Muttermilch eingeflößt: Bebt die Welt und verschwindet das Wasser, dann verlass dein Haus und renn in die Berge.

Also waren sie vorbereitet, als am Morgen des 26. Dezember 2004, kurz vor neun Uhr, der Semong zurückkam, als der Meeresboden erzitterte und die ersten Häuser auf den Boden fielen, wo sie heute noch liegen. Dann zog sich das Wasser zurück und die Bewohner flohen in die Berge. 30 Minuten später erreichte die Monsterwelle die sonnensatten Buchten Simeulues, sie stahl dem Land die weißen Sandstrände, die Häuser und Reisfelder, aber nicht die Einwohner.

Mehr als 150 000 Menschen tötete der Tsunami allein in Indonesien. 230 000 in ganz Südostasien. Auf Simeulue dagegen, das nur wenige Kilometer neben dem Epizentrum des Seebebens liegt, starben nur die sieben Fischer, die gerade auf dem Meer ihre Netze einholten.

„Hätten sie doch überall die alten Erzählungen am Leben gehalten“, sagt Sutan Ruswin. „So viele Leben hätten gerettet werden können.“ Stattdessen liefen auch viele Indonesier dahin, wo sich eben noch das Meer befand. Sie riefen ihre Familien und Freunde per Mobiltelefon herbei, um die zappelnden Fische im Schlick einzusammeln oder das Naturschauspiel zu bewundern. Als die erste Welle am Horizont herandonnerte, rannten sie viel zu spät in die entgegengesetzte Richtung und wurden unter den Wassertürmen begraben.

Tsunamis sind in dieser Weltgegend keine Besonderheit, Indonesien und die Philippinen liegen auf dem sogenannten pazifischen Feuerring. Es kommt vor, dass die Erde täglich bebt. Manchmal so stark, dass die Minarette der Moscheen schwanken. Dann wieder so schwach, dass sich kleine Ringe in den Regentonnen hinter den Häusern ausbreiten, als ob ein Kiesel auf die Wasseroberfläche geplumpst wäre. Acht Beben, die Wellen auslösten, hat das neue Frühwarnsystem laut Geoforschungsinstitut seit seiner Inbetriebnahme registriert. Meist sehr kleine Wellen, keine von überregionaler Bedeutung. Die gab es aber auch: 1907 das eine, und davor, am 27. August 1883, explodierte der Vulkan Krakatau, zerbarst in Millionen Teile und schleuderte eine 40 Meter hohe Welle gegen die Küsten Javas und Sumatras. Die Wucht war so stark, dass sie auch vier Zeitzonen weiter westlich zu spüren war. Im Golf von Biskaya, 17 000 Kilometer entfernt, stieg der Wasserpegel um zwei Zentimeter. Tagelang waren auch die Luftdruckwellen rund um den Globus zu spüren.

Als 2004 der Semong erwachte, schwankte die Erde wie ein Wasserbett und trieb tiefe Risse in Sutan Ruswins Wohnzimmer. In der Inselhauptstadt Sinabang brach Panik aus. Menschen rannten durch die staubigen Straßen und riefen immer nur das eine Wort: „Semong! Semong!“ Frauen rissen ihre Kinder an die Brust und flüchteten in die Berge. Männer beluden eilig Holzkarren mit Wasserflaschen und Nahrungsmitteln. Zu dieser Zeit saß Ruswin, wie jeden Morgen, auf der Terrasse eines Kaffeehauses, schlürfte süßen Tee und aß Teigteilchen. Acht Jahrzehnte hatte er diesen Moment gefürchtet. „Ich wusste, was ich zu tun hatte. Doch ich tat genau das Gegenteil“, sagt er und schaut dabei wie ein Schuljunge, der etwas ausgefressen hat und stolz darauf ist.

Ihn nämlich trieb die Neugierde an den Hafen. Weil er unbedingt wissen musste, ob die alten Geschichten wahr sind, sagt er. Weil ihn die Forscherlust gepackt habe. Denn in den alten Legenden ist überliefert, dass sich das Wasser bei einem Erdbeben erhitzt. Je heißer, desto näher ist das Epizentrum. Das Meer floss ab, als ob jemand da draußen im indischen Ozean einen Stöpsel gezogen hatte. Sutan Ruswin hielt die Hände ins flache Wasser und wurde enttäuscht. „Das Wasser war so warm wie immer“, sagt er. Der Berg musste also weit entfernt explodiert sein.

Ein wenig kleinlaut fügt er hinzu, dass seine Frau tagelang kein Wort mit ihm geredet hatte, weil er statt in die Berge zuerst ans Meer gelaufen war. Was er nicht wusste: Simeulue war die Insel, die dem Epizentrum des Bebens am nächsten lag. Das abziehende Wasser hatte sich zu einer gewaltigen Wasserwand vereinigt und rollte längst auf die Insel zu.

Eine Woche verharrten Sutan Ruswin, seine Familie und die anderen Flüchtlinge in den Bergen. Tranken den Tau von Pflanzenblättern, kochten Reis mit Bananen oder lutschten Kakaofrüchte. Nachts schliefen sie auf Bambusmatten unter freiem Himmel und verloren Schlachten gegen Myriaden von Moskitos, die ihr Blut saugten. Dann kehrten sie nach Sinabang zurück, um zu sehen was ihnen die Natur gelassen hatte. In den Straßen stand das Wasser, in den Häusern der Schlamm.

Die Sonne kriecht über die Mauern der Häuser. Katzen haben sich auf Mauervorsprüngen niedergelassen und dösen schläfrig in der Morgensonne. Wolkenfetzen treiben unter dem Himmel. Irgendwo brummt ein Generator. Sutan Ruswin sitzt vor einer Tasse mit süßem Tee. „Unser Wissen hat uns gerettet. Fast 100 Jahre haben wir es weitergegeben und auf die Welle gewartet“, sagt er und erzählt von den Katastrophenübungen in den Schulen. „Immer wieder wird dort geübt. Damit die Kinder wissen, wie sie sich bei einem Erdbeben verhalten müssen.“ Er spricht von den Spähern, die nach jedem Beben das Wasser im Hafen beobachteten und von dem Imam, der in seinen Gebeten nicht müde wurde, an die alten Geschichten zu erinnern.

Nur drei Monate später bebte die Erde erneut. Am 29. März 2005 versanken die aus Stein gebauten Häuser im Boden wie Schiffe im stürmischen Meer. Ihre Wellblechdächer hocken nun wie riesige Pilze auf der Erde. Die Menschen rannten zurück in die Berge und warteten auf den Semong. Der nicht kam. Aber einstürzende Mauern erschlugen 19 Insulaner, und die meisten Orte hörten auf zu existieren. Und deshalb ist, was Sutan Ruswin bedrückt, vor allem die Zukunft. Die Infrastruktur der Insel wurde zu großen Teilen zerstört, ist es bis heute. Schulen, Krankenhäuser kaputt, eingestürzte Brücken, die in Bächen liegen. Leitungen baumeln wie alte Wäscheleinen von hölzernen Strommasten. Dicke Risse ziehen sich durch die wenigen geteerten Straßenabschnitte, wie Narben im Gesicht eines Preisboxers. In versalzenen Reisfeldern wiederkäuen Wasserbüffel an Gräsern.

Da wo der Vulkan Krakatau bis zu seiner gigantischen Explosion stand, hat sich in den Jahren darauf wieder eine Vulkaninsel gebildet, die durch ständige Aktivität immer weiter wächst. Manche sagen, die Inselbewohner seien sich der Gefahr nicht bewusst, wüssten zu wenig über Seismologie, Geologie, Meteorologie. Aber vielleicht vertrauen sie ja auch auf die Erzählungen der Alten, auf das Wissen der Inseln.

Carsten Stormer

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