zum Hauptinhalt

Panorama: Türkei: Bonnie und Clyde an der Riviera

Die Reisenden wähnten sich im Wilden Westen: Mit vorgehaltener Pistole hielt ein Mann auf freier Strecke den Überlandbus an, mit dem sie auf dem Weg von Izmir an die Schwarzmeerküste waren, und verlangte die Herausgabe aller Wertsachen. Das Angebot des Busfahrers, ihm die Fahrgeldeinnahmen zu überlassen, wenn er die Passagiere in Ruhe lasse, lehnte der Bandit ab.

Die Reisenden wähnten sich im Wilden Westen: Mit vorgehaltener Pistole hielt ein Mann auf freier Strecke den Überlandbus an, mit dem sie auf dem Weg von Izmir an die Schwarzmeerküste waren, und verlangte die Herausgabe aller Wertsachen. Das Angebot des Busfahrers, ihm die Fahrgeldeinnahmen zu überlassen, wenn er die Passagiere in Ruhe lasse, lehnte der Bandit ab. "Ich brauche eine Milliarde Lira", erklärte er - das sind derzeit etwa 1700 Mark. Nachdem er mehrere Reisende gefilzt hatte, sprang er mit dem erbeuteten Geld und Schmuck aus dem Bus, stoppte mit seiner Waffe einen entgegenkommenden Lastwagen und verschwand. Dass dieser moderne Postraub ein Einzelfall bleiben wird, glaubt kaum jemand in der Türkei. Die tiefe Wirtschaftskrise des Landes treibt die Menschen zur Verzweiflung und die Kriminalität in die Höhe.

Erst am Tag vor dem Raubüberfall auf den Überlandbus stürmte ein verzweifelter Kleinunternehmer in der südlichsten Provinz Hatay mit der Waffe in der Hand in die Bank, die ihm wegen seiner Schulden die Waren beschlagnahmen lassen wollte. Der Mann, ein bankrotter Klimageräte-Händler namens Yilmaz Canatar, brachte die sieben Bankangestellten in seine Gewalt und verlangte von der bald angerückten Polizei ein Mikrofon, um die Welt über die verfehlte türkische Wirtschaftspolitik aufklären zu können. Als der Geiselnehmer nach knapp acht Stunden aufgab und erschöpft aus der Bank geführt wurde, empfing ihn dort eine tobende und jubelnde Menge von Landsleuten, die ihn als Helden im Kampf gegen die Krise feierten.

Yilmaz Canatar steht mit seinen Problemen nicht alleine da. Fast 12 000 Kleinunternehmer mussten alleine im ersten Halbjahr ihre Betriebe schließen, ihre Angestellten entlassen und sich mit ihren Angehörigen in das Arbeitslosenheer einreihen. Damit traf die Krise das Land bereits schwerer, als es selbst die beiden katstrophalen Erdbeben von 1999 vermocht hatten.

Polizei fehlt der Sprit

Schon im ersten Quartal dieses Jahres, als die Krise gerade erst ausbrach, schrumpfte die türkische Volkswirtschaft um 4,2 Prozent. Mit der Entwertung der türkischen Lira um rund die Hälfte entspricht der gesetzliche Mindestlohn nur noch knapp 200 Mark; die Armutsgrenze für eine vierköpfige Familie liegt bei 1000 Mark monatlich. Kein Wunder, dass die Verbrechen rasant zunehmen. Die Polizeistatistik weist schon für das erste Jahresdrittel einen Anstieg der Kriminalität um fast 20 Prozent aus. Weil die Krise erst im März ausbrach und es auch dann noch einige Zeit dauerte, bis die Auswirkungen voll auf die Bevölkerung durchschlugen, dürfte dies erst der Anfang gewesen sein. In Istanbul haben sich Taschendiebstähle und Raubüberfälle in manchen Bezirken verdreifacht; die Polizei stellte zwar eine Sondereinheit zur Bekämpfung dieses Unwesens auf, musste deren motorisierte Abteilung aber bald wieder parken, weil es angesichts staatlicher Sparmaßnahmen am Sprit fehlt. Eine erst kurz vor dem Ausbruch der Krise erlassene Amnestie tut ein übriges, um die türkischen Straßen unsicher zu machen. Denn 30 000 Verbrecher wurden zu Jahresbeginn aus den Gefängnissen entlassen. Weil das Verfassungsgericht jetzt auch noch einige Einschränkungen des Straferlasses für ungültig erklärte, könnten demnächst noch mehr Sträflinge frei kommen - darunter sogar der Papst-Attentäter Mehmet Ali Agca.

Zur Startseite