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Panorama: U-Boot "Kursk": Niemand hat wirklich Gewissheit über das Schicksal der Matrosen, deshalb beten die Angehörigen für ein Wunder

Konteradmiral Michail Motzak sucht nach Worten, um der Nation das Unfassbare beizubringen: Lasst fahren alle Hoffnung, die ihr hier sitzt. Der Rubikon ist überschritten, lautet seine Botschaft.

Konteradmiral Michail Motzak sucht nach Worten, um der Nation das Unfassbare beizubringen: Lasst fahren alle Hoffnung, die ihr hier sitzt. Der Rubikon ist überschritten, lautet seine Botschaft. Heute, vielleicht auch schon gestern, spätestens aber in der Nacht: "Nach gründlicher Analyse aller verfügbaren Parameter müssen wir uns auf das Schlimmste gefasst machen." Am Sonnabend um 17 Uhr Ortszeit, als das Staatsfernsehen das laufende Programm für die Hiobsbotschaft unterbricht, ist aus der Havarie offiziell eine Katastrophe geworden. Die bisher größte in der Geschichte der sowjetischen und russischen Seekriegsflotte. Vielleicht die größte überhaupt.

Dennoch: Bis zuletzt hielt sich die Version, dass 20 Mann eventuell noch leben würden. In Luftblasen, wo ein halbwegs erträglicher Druck herrscht und der Sauerstoffanteil nicht unter acht Prozent gesunken ist. Valentina Staroselzewa klammert sich seit Tagen an diesen Strohhalm. Dima, ihr Sohn und sechs weitere Matrosen kommen aus Kursk. Auf dem Kreuzer gleichen Namens zu dienen, gilt in der südrussischen Provinzhauptstadt als Ehre und Auszeichnung.

Valentina hat nur eine Handtasche mit Fotos bei sich, als sie nach Norden aufbricht. Der Zug, in den sie am Donnerstagabend einsteigt, kommt schon aus Sinferopol am Schwarzen Meer, wo Putin zu dieser Zeit noch Urlaub macht und ist hoffnungslos überfüllt. In Kursk wird für die Angehörigen ein zusätzlicher Wagen angekoppelt.

Olga Kusnezowa ist zu Hause geblieben, sie ist zu krank für die Reise. Am Samstag vor einer Woche, als sich das Unglück ereignete, sagt sie, sei der Zwirnsfaden gerissen, an dem die Ikone seit Jahren an der Wand hing. Da habe sie gleich gewusst, dass etwas mit Viktor ist, ihrem Sohn. Der soll aber in einem der hinteren Abschnitte des Bootes sein, wo die Überlebenschancen am größten sind. Daher hat sie beim Kirchgang im letzten Moment ihr schwarzes Kopftuch gegen ein buntes vertauscht. Und die Kerze, die sie mit zitternden Fingern anzündet, brennt nicht für die Seele des toten Sohnes, sondern für dessen Rückkehr.

Samstag 12 Uhr. Der Zug mit Valentina holpert gerade über die letzten Weichen vor dem Bahnhof von Murmansk. Valentina steht im Gang, mit der irren Hoffnung, beim Aussteigen würden man sagen: Alle sind längst gerettet. Doch die Gesichter der Marineoffiziere auf dem Bahnsteig sind so grau und düster wie der Himmel über der Arktis.

13 Uhr: Patriarch Alexi der die Erlöserkirche in Moskau weiht, betet seit Stunden für die Besatzung. 14 Uhr: Dauergottesdienst auch in der kleinen Seemannskirche in der Polarsiedlung Wedjajewo, dem Heimathafen der "Kursk". Im Lazerett werden 200 zusätzliche Betten aufgestellt. Für die Besatzung und für die Angehörigen. In jedes dritte Haus der Siedlung kam das Unglück. Zwei Frauen liegen mit Herzinfarkt auf der Intensivstation und eine mit verfrühten Wehen im Kreißsaal.

15 Seemeilen vom Strand entfernt stampft die norwegische "Normand Pioneer" mit Höchstgeschwindigkeit durch die Barentssee. An Bord das britische Rettungsboot und Kampftaucher. Einzige Hoffnung nach dem Fiasko der russischen Rettungsmittel. Und noch immer sind es 30 Seemeilen bis zum Unglücksort. Sonntag, 13 Uhr. Was Russlands Marine in acht Tagen nicht schaffte, gelingt norwegischen Kampftauchern in nur zwei Stunden: Schadensbesichtigung direkt vor Ort, auf dem Grund der Barentssee. In Anzügen, die aussehen, als müssten sie im offenen Weltraum arbeiten, beginnen sie zwei Stunden später mit dem Abschrauben des äußeren Deckels an der Notausstiegsluke der Kursk. Nach den Befunden befragt, vertröstet Flottenchef Kurojedow die Presse auf später.

Unnötig, denn sein Gesicht spricht Bände. Bei NTW, dem einzigen russischen Sender, der schon am Samstag rigoros alle Shows aus dem Programm nimmt, laufen zu Verdis Requiem und dem Bild eines halbversunkenen Wracks alle 118 Namen über den Bildschirm: Valentinas Dima und auch Viktor, dessen Mutter nun wohl doch das schwarze Kopftuch umbinden muss.

Sonntag, 17 Uhr: Ein altes Mütterchen begehrt Einlass im Stab der Flotte, um dort ihre Hausapotheke abzuliefern: Schlafmittel, Herztropfen und eine Kräuterelixier gegen erhöhten Blutdruck. Zur gleichen Zeit versuchen die norwegischen Taucher in das U-Boot einzudringen. Es gelingt nicht. Bis zum Abend nicht. Die Angehörigen der Matrosen, meint das Mütterchen, brauchten das Mitgebrachte jetzt nötiger als sie selbst. Bitterböse ist die alte Frau auf Putin. "Im April war er hier, hat auf einem U-Boot die Seetaufe empfangen und dazu Wasser aus der Barentssee getrunken. Alles Pokasucha! (Angeberei)" Putin sei schlecht erzogen, leider sei da nichts mehr zu machen. "Trotzdem, er muss kommen. Wenn er ein Mann und kein Waschlappen ist."

Die norwegischen Taucher vermuten einen Mann in der Schleuse der Kursk. Aber genaue Erkenntnisse gibt es nicht. Das russische Militär hat die Hoffnung aufgegeben, auch wenn Präsident Putin am Abend noch letzten Einsatz bis zur Gewissheit ankündigte. Die Angehörigen beten. Sie beten für ein Wunder: Herr, erbarme dich!

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