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Ukraine: Im wilden Osten Europas

Im nächsten Jahr findet die Fußball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine statt. Doch wie ist es bestellt um die Ukraine, oft als Armenhaus Europas verschrien? Der Versuch einer Antwort von innen heraus.

Die Furcht vor dem Osten ist tief im europäischen Bewusstsein verankert. Kalter Krieg, Tschernobyl und Horrormeldungen über Staatswillkür und HIV-Raten haben ihre Spuren hinterlassen. Die Krone wurde dem Ganzen aufgesetzt, als Polen und die Ukraine den Zuschlag für die Fußball-EM 2012 bekommen haben. Jetzt war die Angst vor dem Osten endgültig in der Mitte der deutschen Gesellschaft angekommen, beim Fußballfan: Sind die Europa oder was? Das Endspiel einer Europameisterschaft 200 Kilometer von einem Beton-Sarkophag entfernt und dabei ist ja völlig unklar, wie ein wirtschaftlich darbendes Land ein solches Großereignis überhaupt schultern soll.

Schon die Ankunft am internationalen Flughafen Kiew-Borispol lässt bei Reisenden Zweifel aufkommen, ob man in einer internationalen Metropole vom Range Mailands gelandet ist oder sich doch eher in einem etwas größeren Osnabrück befindet. Über die einzige Autobahn des Landes geht es hinein in die "Mutter aller russischen Städte" - Kiew. Ja, so wird die 2,5 Millionen-Einwohner-Stadt tatsächlich genannt. Die über Jahrhunderte hinweg gemeinsame Geschichte mit dem heute ungeliebten großen Nachbarn äußert sich nicht nur in religiösen und kulturellen Ähnlichkeiten, auch grimmige Plattenbauten haben die Außenbezirke von Kiew zu bieten. An diesen vorbei donnern SUV's und Jeeps über Schlaglöcher in Richtung Innenstadt, in der sich das Leben abspielt.

So weit der Osten – so weit die stimmenden Klischees. Die Menschen in der Stadt unterhalten sich leiser als im Westen, es herrscht ein gedämpfter Halbflüsterton, die wenigen Touristen fallen allein durch ihre Lautstärke auf, nicht erst durch die Sprache. Wird hier die Privatsphäre mehr geschätzt oder ist es ein Relikt aus alten KGB-Zeiten – vielleicht sogar diese neue Angst, die Beobachter ausmachen, seit der pro-russische Präsident Viktor Janukowitsch Anfang des Jahres an die Macht gewählt wurde? Jener vorbestrafte Mann, der 2005 noch mit orangen Fähnchen und landesweiten Protestaktionen wegen Wahlbetruges vom Volk davon gejagt wurde.

Die schmutzige Wäsche des neuen Machthabers und seiner hinter ihm stehender Oligarchen aus dem Osten des Landes – dem Osten des Ostens sozusagen – wird täglich von mehreren Tageszeitungen gewaschen, die allerdings vor allem von dem gelesen werden, was von der Intelligenzija übrig geblieben ist. "Wir müssen konstatieren, dass die Selbstzensur in unserem Land wesentlich weiter ausgeprägt ist als die Zensur im eigentlichen Sinne des Wortes", schreibt Julija Mostovaja, die Vize-Chefredakteurin von Zerkalo Nedeli, einer Publikation, die wöchentlich und wortgewaltig gegen Janukowitschs Regierung wettert und ihn in einer Karikatur schon mal gemeinsam mit Putin in eine mit Hammer und Sichel bestickte Unterhose klettern lässt.

Bedroht oder fremdbestimmt wird beim Spiegel der Woche (so die Übersetzung des Namens) in den zwei Monaten meiner Mitarbeit niemand, vielmehr machen die niedrige Auflage und daraus resultierende finanzielle Sorgen dem Blatt zu schaffen. Besondere Brisanz verströmen viele Artikel, weil die in Deutschland übliche strikte Trennung von Nachricht und Meinung in dieser Form nicht existiert. Doch war die Ukraine nicht erst dieses Jahr im Ranking der Reporter ohne Grenzen weltweit größter Absteiger? Hinter dem Irak, Kambodscha und Simbabwe liegt das Land nun auf Platz 131, vor allem der Fall des verschwundenen und wohl ermordeten Reporters Wasily Klementjew sorgte für die Abstufung.

Klementjew recherchierte zu Korruptionsthemen und stellte lokale Behörden vor Probleme – man kennt solche Geschichten aus Russland. Auch sonst fallen Analogien auf, angezogen werden die Schrauben vor allem beim Fernsehen mit zweifelhaften Maßnahmen wie dem Entzug von Sendelizenzen und der Neubestuhlung von Chefetagen; die Presse dagegen lässt man "spielen". "Die Übergriffe nehmen zu, der Pluralismus ab und die Situation in einigen ländlichen Gegenden ist katastrophal", bilanziert Oksana Romanjuk, die Ukraine-Beauftragte der Reporter ohne Grenzen. Während des Telefonats quengelt im Hintergrund ein Kind, fahren Straßenbahnen vorbei und in Romanjuks Stimme ist vor allem Trotz, keine Furcht. Noch sei es nicht so streng wie in Russland, sagt sie und fügt hinzu, dass ich vorsichtig sein soll.

Die autoritären Tendenzen des ukrainischen Staates sind mit Zahlen schwer zu belegen. Wie furchterregend dieser für seine Bürger und europäischen Bedenkenträger ist, bleibt wahrscheinlich eine Einstellungsfrage. Für Alexander Wolodarskij ist der Fall ziemlich klar, der Blogger und Künstler liegt seit Jahren mit den Behörden in einem ungleichen Clinch. Um gegen einen "Porno-Paragraphen" zu demonstrieren, mit dem illegale Erwachsenen-Unterhaltung bekämpft werden soll, aber in der Realität vor allem ungeliebte Meinungen aus der Öffentlichkeit verbannt werden, wählte er die Provokation. Mit einer Partnerin simulierte Wolodarskij vor dem Parlament nackt den Geschlechtsakt, der Staatsanwalt wollte ihn dafür für mehrere Jahre ins Gefängnis stecken. In der Untersuchungshaft bekam er eine Lungenentzündung, der Prozess glich einer Farce nach ganz "klassischen" Mustern.

Auf seinem Rücken hat der junge Mann mit den schulterlangen Haaren "Eto vam ne Evropa" tätowiert, was sinngemäß "Ihr seid hier nicht in Europa, verstanden?" heißt und von ukrainischen Beamten gerne ausgerufen wird, wenn jemand sein Recht erstreiten will. "Ein Hauptproblem dieses Landes ist der Glaube seiner Bürger, dass Freiheit und gutes Leben sich ausschließen", sagt Wolodarskij. Zusammen mit anderen Künstlern, gegen die ebenfalls seit Jahren wegen harmloserer Protestaktionen prozessiert wird, hat er das Gerichtsexperiment gestartet, eine Mischung aus Ausstellung und Protest-Forum, die an einer Kiewer Universität ihr Zuhause gefunden hat. Hier werden Gerichtsakten ebenso ausgehängt wie bemalte Teller, auf denen ein Polizist einem jungen Mann durch ein dickes Buch mit der Faust auf den Kopf schlägt. Ein Kommentar zum nationalen Gesetzbuch, lautet das dazugehörige Sprechblasen-Zitat. Immerhin, Anstalten das Gerichtsexperiment zu beenden, habe der Staat bislang nicht gemacht, so Wolodarskij.

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Seite 3: Die EM 2012 kann kommen

Nachts macht Kiew trotz Ost-Wetter auf West-Europa, Straßenmusiker mit vor Kälte blauen Händen lassen sich nicht entmutigen, die Bars sind voll und nicht billig. Wo in Berlin oft der Grundsatz Schranz statt Glanz gilt, wirkt das Interieur der Nachtlokale in Kiew, man kann es nicht anders sagen, nett; aus den in die Wände eingelassenen Boxen läuft westliche Chartmusik. Mein Begleiter Sascha führt mich in eine Diskothek, die ein besonders gutes "Kontingent" haben soll. Was das ist, wird erst nach Betreten der Lokalität und dem Sicherheitscheck mit Metalldetektor deutlich.

Auffallend viele attraktive Frauen fangen die Konversation mit den romantischen Worten 'Kaufst du mir einen Margarita?' an. Sascha ist Jurist, war viel unterwegs, er kennt sich aus. In Clubs gebe es unterschiedliche Arten von Kontingenten, also "ganz professionelle oder solche die nur etwas Spaß haben wollen und kein eigenes Geld besitzen. Manchmal auch normale Frauen", sagt er. Als mein Gesicht Missbilligung signalisiert, drängt er mich ins "andere Stockwerk", da sei es viel besser. Ich will kein Spielverderber sein und lande unversehens in einer Strip-Bar und dort auf dem einzigen freien Platz, direkt neben dem Plateau mit der Stange drauf.

Durch rauchig-parfümierte Luft fliegen halbe Unterwäsche-Kollektionen in meine Richtung. "Ein Bier, dann gehen wir", sage ich und Sascha nickt mit dieser Ungerührtheit, die Männer hier als Charakterstärke auslegen. Keine übertriebenen Gefühle, keine Übertreibungen und sich niemals überrascht zeigen, so ist Sascha, der doch lachen muss, als eine Tänzerin eindeutig gegen meinen Willen mit ihren hervorragenden Körperteilen mein Sichtfeld einnimmt und nicht locker lässt. Dann setzt sie sich daneben, will Geld, ich rechne den Betrag in meinem Portemonnaie gegen die überzogenen Preise und unter Anbetracht des spaßbefreit wirkenden Türstehers und sage wahrheitsgemäß, dass ich nicht genügend dabei habe. "Du gehst in Nachtclubs, ich arbeite hier. Wer von uns hat kein Geld?", fragt sie. 50 Hrywnjas wechseln den Besitzer, was fünf Euro entspricht.

Als sie zehn Minuten später wieder mit den Hüften schwingt und sich in meine Richtung aufmacht, habe ich wohl ein panisches Gesicht drauf. Statt eines Lapdance kriege ich diesmal einen Witz, verstehe jedoch nur das Ende: "Keine Sorge Hase, sagte der Teufel, ich will nicht zu dir". Sie lacht und nimmt ihren BH von meiner Schulter. Das Bier ist leer, Sascha leiht mir Geld. Wir gehen. Vor der Verabschiedung erklärt er: "Du musst das verstehen. Hier gibt es nicht nur kaum eine Mittelschicht, sondern auch keine mittlere Lebensphase, keine Zeit halt. Erst Hure und dann sofort Mutti, fünf Jahre rumhängen und sich ausprobieren ist nicht. Hier muss alles sofort sein, hier ist Kapitalismus."

Glaubt man den Statistiken, sieht es für Kapitalismus mit östlichem Antlitz düster aus. Inoffizielle Schätzungen gehen davon aus, dass fast zwei Prozent der Bevölkerung mit AIDS infiziert sind, was aus der Ukraine das am stärksten betroffene Land Europas macht. Im Human Development Index, einer Art Lebensstandard-Vergleich, ist das flächenmäßig zweitgrößte Land Europas auf Platz 69, hinter Albanien, Lybien, Trinidad und Tobago. Dabei ist die Ukraine immerhin die neununddreißigst größte Volkswirtschaft der Welt, trotz eines astronomischen BIP-Rückganges von 15 Prozent im Krisenjahr 2009. Im Korruptionsindex von Transparency International langt es nur für Platz 134 hinter... fangen wir damit gar nicht erst an.

Doch Zahlen sind nicht alles, kulturelle Unterschiede sind es, die das Verständnis des Ostens erschweren. So drückt sich die Naivität der Ukrainer anders aus als die der Deutschen. Während hierzulande vor allem das Fremde, das von außen Kommende kritisch beäugt wird, halten die Ukrainer an der Doktrin des im eigenen Lande wertlosen Propheten fest, Vertrauensvorschuss gibt es nur für "Made in the West". Für ein Land, das erst 19 Jahre jung ist und so sehr auf der Suche nach dem unverwechselbar Eigenen, ist das Misstrauen gegen sich selbst ein Ballast, der so schwer auf den Schultern liegt wie der Druck, außenpolitisch immer zwischen Russland und Europa zu lavieren.

Die NATO im Blick, die russische Schwarzmeerflotte in Sewastopol. Das Verlangen nach wahrer Unabhängigkeit wird größer, je weiter die Erkenntnis gedeiht, dass diese nicht im Rahmen des politisch Möglichen liegt. Hinzu kommt, dass die einzelnen Entwicklungsschritte nicht changieren, sondern ruckartig aufeinander folgen, mal sind die pro-westlichen "Orangen" dran, mal die im Westen als pro-russisch titulierten Kräfte, die in der Realität den großen Partner dulden, statt in wirklicher Freundschaft zu ihm zu ergehen. Am deutlichsten zu spüren sind die Gegensätze in der großen nationalen Sprachproblematik – fast das gesamte Land redet im Alltag russisch, doch sind Straßenschilder und offizielle Dokumente ausschließlich auf ukrainisch. Die Bedeutung der eigenen Sprache ist hier nicht geringer einzuschätzen als im verspätet zum Nationalstaat gewordenen Deutschland, doch regen sich selbst ukrainische Nationalisten zumeist auf Russisch über Russland auf.

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Ein Deutscher, der keine Angst vor dem großen Unbekannten hatte, ist Erik Aigner. Der Mann kann ohne Übertreibung von sich behaupten, die Kneipen-Szene in Kiew maßgeblich mit aufgebaut zu haben. Lounge-Musik, Ledercouches und Paulaner haben vor allem dank ihm den Weg nach Kiew-City gefunden. Der Chemnitzer kam Mitte der Neunziger Jahre in die Ukraine. Mit etwas zeitlichem Abstand und viel Beschönigung kann man diese Zeit heute als die "wilde" bezeichnen, als ein Menschenleben nichts und Geld alles wert war, als Oligarchen solche wurden und breiteste Bevölkerungsschichten in einem sich selbst abwirtschaftenden Staat verarmten. Eigner war damals ein Niemand, aber er hatte Chuzpe und das Gefühl, dass der Osten bereit ist für westliche Ausgeh-Kultur. Heute findet unser Treffen in einer Bar statt, die von außen als solche nicht zu erkennen ist, der Gastronom ist nur kurz in der Stadt, er habe sich neue Aufgaben in Odessa und Donezk gesucht, sagt er.

Aigner ist haarlos, trägt einen langen Kinnbart und hat die Statur eines Schranks. Auf seiner Stirn sammeln sich mit jedem weiteren Schluck Whiskey Schweißperlen. "Ich glaube, in Deutschland wäre es mir zu langweilig", setzt er an, wird aber vom vierten Telefon-Klingen in fünf Minuten unterbrochen. Seine Begleiterin, Natascha, erteilt auf Nachfrage die Auskunft, sie sei Aigners Muse. Der beruhigt währenddessen in gutem Russisch offensichtlich eine Frau, es hört sich ganz so an, als wäre es eine Freundin, Ehefrau oder eine andere Muse vielleicht? Natascha raucht unentwegt, verdreht die Augen, Aigner legt auf und erzählt seine Story. Er sei Geschäftsführer und Teilhaber von sieben Bars gewesen, die heute alle der Organisation gehörten. Meinungsverschiedenheiten habe es gegeben und er hatte nichts schriftlich, alles sei per Handschlag (nein, es ist kein Witz) besiegelt worden, bis man ihn rausgedrängt habe aus dem Geschäft. "Ich glaube an das Gute im Menschen", sagt Aigner, guckt nach links und rechts, er muss los, die Muse folgt. Weitere Nachfragen bei Barmännern und Türstehern ergeben immer die gleichen Antworten: "So ist es meistens, wenn einer in der Ukraine ein Geschäft anfängt. Irgendwann macht die Mafia ihn fertig".

Einen Deutschen, der sich ebenfalls nicht von der Ukraine hat schrecken lassen, treffe ich in Lemberg. Ansonsten ist Udo Heine der exakte Gegenpol zum Lebemann Aigner, beiläufig erwähnt er, dass Rinat Achmetow und er vielfach zusammengearbeitet hätten. In diesem Land ist das der Ritterschlag für Business-Leute, Achmetow ist nicht einfach ein Wirtschaftsmagnat aus Donezk, sondern der Oligarch der Oligarchen. Er baut Fünf-Sterne-Fußball-Stadien, unterstützt den Präsidenten, macht Milliarden und ist der wohl reichste Mann Europas. Udo Heine leitet ein edles Hotel in der blitzgescheit restaurierten Altstadt von Lemberg, der wichtigsten Stadt der West-Ukraine. "Das Risiko hier ist größer, aber die Erträge sind es auch", sagt Heine, bequem in eine Wildledercouch zurückgelehnt. Menschen mit Einkaufstüten, die eher nach New York und Mailand aussehen, wandern mit diesem explizit gelangweilten Blick an uns vorbei, Heine lässt Kaffee bringen. Mann müsse sich schon trauen und vor allem Kontakte haben, sagt er, aber natürlich mache es Spaß. Und von der Euro 2012 werde die Stadt zwar profitieren, aber sein Hotel habe ohnehin eine gute Auslastung.

Ach ja, die Fußball-Europameisterschaft. Schon in Kiew habe ich Macher und Verantwortliche besucht, es werde alles fertig, sagen mittlerweile nicht nur einheimische, sondern auch ausländische Experten. Auch in Lemberg ist es das gleiche, der in der Stadtverwaltung zuständige Beamte hat für deutsche Sorgen (oder Hoffnungen, wenn es um die Ersatzspielorte Berlin und Leipzig geht) nur noch ein aufmunterndes Lächeln übrig. "Beruhigen Sie Ihre Landsleute. Es wird alles fertig", sagt er. Ob die Flughäfen und Stadien nicht zu groß angelegt sind, ob die marode Infrastruktur nicht mehr Aufmerksamkeit hätte abkriegen müssen, all das sind Fragen, die von vielen Ukrainern eher irritiert wahrgenommen werden. So lange Steuergelder nicht ausschließlich in schwarzen Kanälen versickern, sondern wirklich Sachen damit gebaut würden, sei es doch ein Anfang, sagen sie.

In Lemberg wird es Nacht, nach langen Gesprächen und noch mehr Nationalgetränken mit einheimischen Jugendlichen entschließe ich mich, ins Hostel zurückzukehren. Der Abend ist lang geworden, in der Kneipe steht ein Freundschaftsspiel der Ukraine gegen Brasilien auf dem Programm und trotz fehlender Tore der Gelb-Blauen finden sich stets Anlässe zum Anstoßen. Die fast mondänen Gassen Lembergs scheinen jetzt viel ausufernder, Venedig und Wien im Kopf – plötzlich hält ein Polizeiauto. Ich solle einsteigen, wird mir gesagt, ich versuche abzuwiegeln. "Wir fragen dich nicht, wir befehlen es dir: Steig ein!", hallt es mir entgegen. Das wirkt, nun umgeben mich vier junge Uniformierte. Sie wollen Geld und zwar viel, wofür auch immer, als sie jedoch beim Durchschauen meines Portemonnaies den internationalen Presseausweis finden, werden die Witze auf meine Kosten zurückgefahren. Plötzlich geben sie sich mit zehn Euro zufrieden. Ein langer Tag geht zu Ende.

Kurz vor der Rückfahrt nach Kiew besuche ich noch den Partisanenkeller, eine Kultkneipe in Lemberg, an deren Eingangspforte ein Soldat mit echtem Maschinengewehr und falscher Härte zu wissen verlangt, ob man kein "Moskalj" sei, ein Schimpfwort für Russen. "Ich glaube nicht", antworte ich, kriege einen Schnaps, betrete die Höhle. So viel gespielter Nationalismus und das in einer Stadt, wo es genügend echten gibt. In dieser Gegend war Stepan Bandera unterwegs, für die einen ein ukrainischer Freiheitskämpfer, für die anderen ein Terrorist, man kennt diese Probleme mit der Zuordnung auch von heutigen Unabhängigkeitskämpfern. Im Partisanenkeller huldigen Bilder Bandera und seinen Mistreitern und das Menü erwähnt explizit und in Großschrift, dass es hier keine Pelmeni gibt, das russische Nationalgericht, Teig mit Fleischfüllung. Ich bestelle stattdessen Wareniki, das ukrainische Nationalgericht, auch Teig, aber etwas anders geformt, wahlweise auch mit Fleischfüllung, aber etwas anders zusammengemischt. Es wird getrunken. Wodka, der unvermeidliche Wodka. "Europa kommt zu uns", sagt der Kellner, als ich ihn auf sein Gefühl für das kommende Turnier anspreche, "und wir gehen nach Europa."

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