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Der Geigerzähler gehört zur Grundausrüstung. Bei einer Führung am Sarkophag von Reaktor 4 in Tschernobyl zeigt das Messgerät eine um das 37-fache erhöhte Radioaktivität.

© AFP

Ukraine: Urlaub in Tschernobyl

Zur Fußball-EM 2012 will die Ukraine die Zone um den Unfallreaktor in Tschernobyl für den Massentourismus entwickeln. Kiew gründet eigens einen Reiseveranstalter zur "Zone".

Dieser Horrortrip ist ein wahres Schnäppchen. Und strapaziöse Langstreckenflüge müssen sich die Liebhaber des ultimativen Kicks künftig auch nicht mehr antun. Denn der Ort des Grauens liegt mitten in Europa, in der Ukraine: Tschernobyl, seit der Reaktorkatastrophe im April 1986 weltweit Synonym für die Risiken bei der Nutzung von Atomenergie. Pünktlich zum 25. Jahrestag der Tragödie soll der Unglücksort, den bisher nur Fachleute, Journalisten und einzelne Besuchergruppen besuchen durften, zum Mekka für den Massentourismus entwickelt werden.

Das ukrainische Ministerium für Katastrophenschutz, in dessen Bilanzen das vor zehn Jahren stillgelegte Kernkraftwerk steht, hat eigens für dieses Projekt ein Touristik-Unternehmen gegründet. Es soll geführte Ausflüge in die „Zone“, ein mit Stacheldrahtverhauen gesichertes Areal mit einem Radius von 30 km, für ganze 800 Griwna (rund 100 Dollar) anbieten und aggressiv bewerben. Oksana Nor, die Sprecherin des Reiseveranstalters, rechnet längerfristig mit Besucherzahlen von bis zu einer Million pro Jahr. Schon bisher lockt der Sarkophag jährlich einige tausend Besucher hierher.

Vor allem während der Fußball-Europameisterschaft, die Polen und die Ukraine 2012 gemeinsam austragen, stelle man sich auf einen wahren Ansturm ein, sagte Nor bei Radio Liberty. Zwar werde es keine Safaris und kein Entertainment geben. Den Besucher würden dennoch „unvergessliche Eindrücke“ erwarten.

Der fünfstündige Ausflug beginnt mit einem Rundgang durch das Kraftwerk. Wer fit genug ist, kann dabei die Aussichtsplattform in der Nähe des geborstenen und inzwischen unter einem Betonsarg von zweifelhafter Qualität vor sich hin strahlenden vierten Reaktors erklimmen. Danach geht es in eine Geisterstadt, das sechs Kilometer entfernte Pripjat. Hier wohnten vor dem Unfall 50 000 Menschen, darunter die meisten Arbeiter und Angestellten. Bei der Evakuierung durften sie wegen der Strahlenbelastung nicht mal Unterwäsche mitnehmen. Heute gleicht Pripjat einem Freiluft-Museum zur Sowjetunion der 1980er Jahre. Die Zeit ist hier am 26. April 1986 stehen geblieben.

Anschließend steht ein Besuch bei den sogenannten Neusiedlern auf dem Programm: Bewohner der ebenfalls evakuierten umliegenden Dörfer, die auf eigene Faust zurückgekehrt sind. Und da Gastfreundschaft auch in der Ukraine erste Bürgerpflicht ist, bewirten die Rückkehrer Besucher mit Horilka – Wodka mit Pfefferschote – und allem, was Küche und Keller hergeben: Salzgurken, Speck und eingelegte Pilze, gesammelt in den verseuchten Wäldern.

Soweit das Standardprogramm. Für einen geringen Aufpreis kann man Angeln im einstigen Kühlwasserbecken des Unglücksreaktors dazu buchen. Auch Schutzkleidung. Obwohl man auf die nach Meinung des Veranstalters getrost verzichten kann: Selbst bei einer Vier-Tage-Tour durch die Zone wäre die Strahlenbelastung für Besucher geringer als bei einem Transatlantikflug. An Kinder, Hunde und Schwangere sollen dennoch keine Tschernobyl-Tickets verkauft werden.

Experten und Umweltschützer würden am liebsten das ganze Projekt unterbinden. Auf die Atom-Touristen warnte Pjotr Woljanski, Direktor des stillgelegten Kraftwerks, lauerten erhebliche Gefahren. Denn eine sogenannte Risiko-Karte, die die genaue Belastung einzelner Flure innerhalb der Zone ausweist, gäbe es bis heute nicht. Dazu kommt, dass ukrainische Kernkraftwerke Brennstäbe, die bisher in Russland entsorgt wurden, künftig in der Zone endlagern wollen.

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