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Das Ereignis lässt die Stadt nicht los. Dieser Stein liegt auf dem Grab eines Opfers des Amokläufers.

© dpa

Urteil: Bewährungsstrafe für Vater des Amokläufers von Winnenden

Der Amoklauf von Winnenden ist knapp zwei Jahre her. Der Prozess gegen den Vater des 17-jährigen Täters dauerte fast fünf Monate. Nach dem Urteil hoffen die Hinterbliebenen auf etwas Ruhe.

Erst als der letzte Kameramann und der letzte Fotograf den Saal verlassen haben, kommt Jörg K. herein. Polizisten und Sicherheitsleute begleiten den 52-Jährigen auf seinem – zumindest in diesem Prozess – letzten Gang zum Gericht. Nach 29 Verhandlungstagen geht am Landgericht Stuttgart das Verfahren gegen den Mann zu Ende, mit dessen unverschlossen im Kleiderschrank aufbewahrter Sportpistole Tim K. am 11. März 2009 ein Blutbad angerichtet hat. Wegen 15-facher fahrlässiger Tötung, 14-facher Körperverletzung und Verstoßes gegen das Waffengesetz wird er zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt, ausgesetzt zur Bewährung. „Sie werden Ihr ganzes Leben darunter leiden, der Vater eines Massenmörders zu sein“, sagt der Vorsitzende Richter Reiner Skujat. Eine Haftstrafe hielt die Kammer aber nicht für nötig. „Die soziale Isolation, in der die Familie lebt, gleicht einem Gefängnis.“ Zudem kämen auf den Vater zivilrechtliche Klagen auf Schadenersatz zu.

Angehörige der Opfer äußerten sich unzufrieden mit dem Urteil, weil der Vater nicht ins Gefängnis muss. Dennoch gibt es auch Genugtuung. „Wir haben erreicht, was wir wollten. Der Nachweis ist erbracht, der Vater ist schuldig“, sagt Juri Minasenko, der beim Amoklauf von Winnenden am 11. März 2009 seine Tochter Viktorija verlor. An jenem Mittwochmorgen hatte der 17-jährige Tim K. in der Alberville-Realschule in Winnenden mit der Pistole seines Vaters zwölf Menschen getötet und elf verletzt. Auf seiner Flucht erschoss der Jugendliche drei weitere Menschen und verletzte zwei, dann erschoss er sich selbst. Krank vor Sorge eilten Lena und Juri Minasenko damals zur Schule der Tocher: „Ihr Kind ist auf der Liste derer, die den Amoklauf nicht überlebt haben“, sagt man ihnen.

Die Tatwaffe des Amokläufers Tim K., eine Beretta Mod. 92FS, 9 mm.
Die Tatwaffe des Amokläufers Tim K., eine Beretta Mod. 92FS, 9 mm.

© dapd

Richter Reiner Skujat spricht von „kaltblütigen Hinrichtungen“. Was treibt einen jungen Menschen so weit? Wie kann einer, der das Leben noch vor sich hat, über ein Jahr lang Munition aus den Beständen seines Vaters zusammenklauben und zum Mörder werden? Erklärungsversuche gab es im Verlauf des Prozesses viele: Psychiatrische Gutachter haben Tim K. nach dessen Tod seelische Störungen, Abartigkeit, Narzissmus diagnostiziert. Details wurden umfangreich erörtert, Hunderte von Seiten Ermittlungsbericht erarbeitet. Und dennoch: „Es bleibt Ratlosigkeit“, sagt Richter Skujat. Warum Tim K. seine alte Schule an diesem Tag aufsuchte, warum er in dem Klassenzimmer die ersten Schüsse abfeuerte, in dem er zuletzt selbst unterrichtet worden war – viele Fragen konnte selbst dieser größte je am Landgericht Stuttgart geführte Prozess nicht beantworten. In einem Punkt aber besteht aus Sicht der Kammer kein Zweifel: Familie K. hatte Kenntnis von den Tötungsfantasien, die der Sohn gegenüber den Therapeuten in Weinsberg geäußert hatte. „Die Eltern wussten, dass ihr Sohn emotional auffällig, kontaktgestört und psychisch instabil ist“, sagt Skujat. „Er hielt seinen Sohn für vertrauenswürdig und verkannte die Gefahr.“ Jörg K. hätte den Jungen nicht zum Schießen in den Verein mitnehmen dürfen. „Ab dem Frühjahr 2008 waren Sie in Sorge um den psychischen Zustand Tims“, sagt er in Richtung von Jörg K. Dazu zitiert er Teile der 400 000 Chatprotokolle von Tims Schwester, die alle von den Ermittlern ausgewertet worden sind: „Mein Bruder ist verschlossen. Ich habe Angst, dass er sich was antut“, schreibt sie im April 2008. „Mit der Familie ist es schlimm. Beim Essen wurde wieder kein Wort geredet. An Tims Augen sieht man, wie zerbrochen er ist“, diese Zeilen schickt sie ein halbes Jahr vor dem Amoklauf ins Netz.

Der Vorsitzende Richter Reiner Skujat, Beisitzer Georg Böckenhoff, Anne Harrschar.
Der Vorsitzende Richter Reiner Skujat, Beisitzer Georg Böckenhoff, Anne Harrschar.

© dpa

„Jeder Amoklauf hat eine Vorgeschichte“, sagt Juri Minasenko, der seit dem Tod seiner Tochter Viktorija nicht mehr in der Lage ist, seinen Beruf auszuüben. Der Vater hat sich nach dem Massaker in die Fakten versenkt, die Ermittlungsakten studiert und den Täter analysiert. Es ist seine Art, den Verlust zu verarbeiten. Tim K. habe mit „Seelenruhe“ gemordet, sagt Minasenko. „Dieses aggressive Potenzial deutet auf narzisstische Wut hin. Tim K. war krank. Aber eine narzisstische Persönlichkeitsstörung ist nicht wie ein plötzlicher Herzinfarkt, sondern das Resultat einer pathologischen Entwicklung, die schon in der frühen Kindheit beginnt.“ Er sieht viele Momente, in denen die Familie K. hätte intervenieren müssen. Zu dem Schritt, psychologischen Rat zu suchen, habe man sich bloß durchgerungen, weil Tim „das polierte Image der Familie“ zu ramponieren drohte – nicht, um dem Jungen die Hilfe zu bieten, die der er brauchte und wollte. „Schuldig ist der Mensch, nicht die Waffe, aber sie ist der Risikofaktor Nummer eins“, sagt Juri Minasenko. Gemeinsam mit Barbara Nalepa hat er beim Bundesverfassungsgericht eine Verfassungsbeschwerde eingereicht, die sich gegen das geltende Waffenrecht richtet. „Ich habe alles verloren, ich habe keine Angst mehr vor dem nächsten Amoklauf.“ Und der wird kommen, wieder und wieder, so lange Waffen nicht sicher weggesperrt werden, ist Minasenko sicher.

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