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Vor der Urteilsverkündung betritt der 18-jährige Angeklagte Sanel M. abgeschirmt von seinen Anwälten am Dienstag den Verhandlungssaal im Landgericht in Darmstadt. Das Gericht verurteilte ihn wegen des gewaltsamen Todes der Studentin Tugce A. zu drei Jahren Haft. Das Gericht erkannte auf Körperverletzung mit Todesfolge nach Jugendstrafrecht.

© Boris Roessler/dpa

Update

Urteil im Tugce-Prozess: Angeklagter Sanel M. für drei Jahre ins Gefängnis

Drei Jahre muss der 18 Jahre alte Sanel wegen des Todes von Tugce in Haft. Die Familie ist sieben Monate nach der Tat noch immer in Schockstarre. Der Täter nimmt das Urteil regungslos auf.

Ganz in Schwarz gekleidet warten Tugces Eltern und ihr Bruder Dogus schon eine halbe Stunde vor Verhandlungsbeginn auf das Urteil gegen Sanel M.. Während der gut einstündigen Urteilsbegründung von Richter Jens Aßling weint Mutter Sultan im Saal 3 des Landgerichts Darmstadt immer wieder leise oder starrt wie ihr Mann Ali vor sich hin. Das Strafmaß von drei Jahren Jugendhaft nehmen die Albayraks gefasst auf. Dogus schüttelt nur leicht den Kopf als Aßling sagt, Sanels Entschuldigung im Gerichtssaal sei nach Einschätzung der Kammer „durchaus aufrichtig gemeint gewesen“.

„Die ganze Familie ist immer noch in Schockstarre“, sagt Tugces Cousine Capri vor Verhandlungsbeginn. Der älteste Sohn der Familie, auch er Nebenkläger, ist nicht zur Urteilsverkündung gekommen. „Ich glaube, dass die Familie froh ist, dass der Prozess vorbei ist“, sagt ihr Anwalt Macit Karaahmetoglu. Die Albayraks seien in den vergangenen Wochen immer wieder mit den Einzelheiten des Todes ihrer Tochter konfrontiert worden. Und wie sieht die Familie das Strafmaß für den 18 Jahre alten Angeklagten? Sie selbst äußert sich nicht. Ihr Anwalt sagt: „Jetzt besteht die Chance, eine Zäsur in seinem Leben zu setzen. Sein Leben kann man noch retten. Das von Tugce nicht mehr.“

Einige Frauen aus dem Gericht sollen auf Foto von Tugce gespuckt haben

Sanel M., der einen grellrosa Pullover trägt, blinzelt während der Urteilsverkündung einige Male, scheint sonst aber ruhig. Eine Freundin bricht im Zuschauersaal in Tränen und Schluchzen aus. Vor dem Gerichtsgebäude kommt es bei einer Mahnwache für Tugce zu Beleidigungen. Tugces Tante Mihrican weint und ist außer sich: Einige Frauen aus dem Gerichtssaal hätten auf ein Foto Tugces gespuckt. Richter Aßling wendet sich gleich zu Beginn seiner Urteilsbegründung an Tugces Familie. Die Albayraks hätten einige Fragen während der Verhandlung vielleicht als despektierlich empfunden. Es sei aber nicht die Absicht des Gerichts gewesen, Tugce „herabzusetzen oder gar zu demontieren“, betonte Aßling. „Es geht allein darum herauszufinden, was passiert ist.“ Dabei sei dem Gericht bewusst: „Dieser Verlust ist durch kein Urteil dieser Welt wieder auszugleichen. Damit müssen Sie leben, so schwer es fällt.“

Auch während seiner Begründung der Höhe des Strafmaßes spricht Aßling die Albayraks an. Es sei sicher schwer, für sie zu ertragen, dass nun über die Zukunft des Angeklagten gesprochen werde. Dieser sei von einer Vorverurteilungskampagne „in großem Umfang gebrandmarkt“ und spüre dies auch im Gefängnis. Gegen Sanel spreche, dass er die Warnschüsse von drei Jugendarresten - den letzten zwei Monate vor der Tat - nicht verstanden habe. Auch nach seinem verhängnisvollen Schlag „hätte man sich gewünscht, dass er mehr Empathie und Mitempfinden mit dem Opfer hat“, sagt Aßling. Daran müsse er nun in der Jugendhaft arbeiten. „Wir fürchten, wenn er jetzt einfach so wieder in Freiheit kommt, dass er relativ schnell in alte Verhaltensmuster und seinen Freundeskreis zurückfällt, der sich hier nicht unbedingt rühmlich gezeigt hat.“

Richter: "erhebliche Erziehungsdefizite" bei Sanel M.

Zu seinen Lasten verwies der Vorsitzende Richter vor allem darauf, dass Sanel M. bereits in der Vergangenheit unter anderem wegen Gewaltdelikten verurteilt worden war. Es bestünden bei ihm "erhebliche Erziehungsdefizite". Durch die Jugendstrafe habe er die Möglichkeit zur Ausbildung, zu psychologischer Betreuung oder auch Anti-Aggressions-Training. Das Gericht befürchte, dass er in Freiheit ansonsten "relativ schnell in alte Verhaltensmuster" zurückfallen würde. Grundsätzlich merkte er an, dass im Jugendstrafrecht der "Erziehungsgedanke für den Täter" entscheidend sei. Die Verteidigung wird womöglich Revision gegen das Urteil einlegen. Das Strafmaß sei zu hoch, weshalb sie mit ihrem Mandanten erörtern wollten, ob sie Rechtsmittel einlegen, sagte Anwalt Stephan Kuhn.

Die Verteidigung hatte lediglich eine Bewährungsstrafe gefordert. Das Gericht blieb dagegen nur knapp unter der Forderung der Staatsanwaltschaft, die für eine Jugendstrafe von drei Jahren und drei Monaten plädiert hatte. Die Familie Albayrak, die in dem Verfahren als Nebenklägerin aufgetreten war, war nach den Worten ihres Anwalts Macit Karaahmetoglu "erleichtert" über das Ende des Verfahrens und das Urteil. Das Gericht habe die Tat nicht als Bagatelle abgetan. Für den Angeklagten Sanel M. bestehe nun die Chance, die Tat zu einer Zäsur in seinem Leben zu machen. "Sein Leben kann man noch retten, Tugces nicht mehr", sagte Karaahmetoglu.

Mehrere tausend Menschen trauern am 28.11.2014 vor dem Klinikum in Offenbach am Main (Hessen) um Tugce A. Der tragische Tod der jungen Frau hatte über Deutschland hinaus für Aufsehen gesorgt.
Mehrere tausend Menschen trauern am 28.11.2014 vor dem Klinikum in Offenbach am Main (Hessen) um Tugce A. Der tragische Tod der jungen Frau hatte über Deutschland hinaus für Aufsehen gesorgt.

© dpa

Als Tugces Eltern am 28. November 2014 nach dem Hirntod ihrer Tochter die lebenserhaltenden Apparate abschalten ließen, versammelten sich vor dem Krankenhaus in Offenbach etwa 1500 Menschen, um Anteilnahme zu zeigen. In dem Verfahren hat das Landgericht Darmstadt mehr als 60 Zeugen vernommen, auch Freundinnen von Tugce sowie Freunde von Sanel M.. Schnell wurde klar, dass sich vor dem tödlichen Schlag beide Seiten gegenseitig übel beleidigten. Oberstaatsanwalt Alexander Homm sagte in seinem Plädoyer, weder sei Sanel M. ausschließlich ein aggressiver „Koma-Schläger“ noch Tugce eine „nationale Heldin“ für Zivilcourage.

Ein Überblick im Tugce-Prozess in Zitaten

Ein aufwühlender Prozess für die Familie der Toten, für den Angeklagten und für Beobachter. Ein Überblick in Zitaten: Zum Prozessauftakt am 24. April 2015: „Ich habe in der Tatnacht der Tugce eine Ohrfeige gegeben und sie ist dann umgefallen.“ (Angeklagter Sanel M.) „Es tut mir unendlich leid, was ich getan habe. Ich habe niemals mit ihrem Tod gerechnet.“ (Sanel M.) „Es waren floskelhafte Sätze.“ (Macit Karaahmetoglu, Anwalt von Tugces Familie, zur Aussage des Angeklagten) „Die Aussage war von Emotionen und erkennbarer Reue geprägt.“ (Oberstaatsanwalt Alexander Homm zur selben Aussage) „Wir sind jetzt in der Realisierungsphase. Die ist noch schlimmer.“ (Tugces 25-jähriger Bruder über die Trauer in seiner Familie)

Am fünften Prozesstag, 22. Mai: „Es ging gleich verbal zur Sache. Das waren harte Ausdrücke, von beiden Seiten.“ (Ein 22 Jahre alter Zeuge über den Streit zwischen Tugces Gruppe und Sanels Gruppe) Am achten Verhandlungstag, 3. Juni: „Grundsätzlich ist eine Ohrfeige dazu in der Lage, wenn sie fest geschlagen ist.“ (Sachverständiger Marcel Verhoff, Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der Uni-Klinik Frankfurt am Main, zu dem Umstand, dass der Schlag bei Tugce einen kurzen Blackout ausgelöst haben könnte, so dass sie ohne Abwehrreaktion hinfiel) „Ich denke, dass er die Opfer-Perspektive nicht besonders gut einnehmen kann.“ (Ein Mitarbeiter des Jugendamts Offenbach über Sanel M.)

Der Angeklagte Sanel M. (l) sitzt am 24.04.2015 zu Verhandlungsbeginn in einen Sicherheitssaal des Landgerichts in Darmstadt (Hessen) neben seinem Verteidiger Stephan Kuhn.
Der Angeklagte Sanel M. (l) sitzt am 24.04.2015 zu Verhandlungsbeginn in einen Sicherheitssaal des Landgerichts in Darmstadt (Hessen) neben seinem Verteidiger Stephan Kuhn.

© dpa

Am neunten Prozesstag, 12. Juni: „Die Rollen in dem Szenario waren schnell verteilt. Gut gegen Böse, Schwarz und Weiß. Aber es ist in der Regel nicht immer so einfach... Es sind die Grautöne, die das Bild ergeben.“ (Oberstaatsanwalt Homm in seinem Plädoyer) „Das Eingeständnis der Reue war nicht von Mitgefühl, sondern von Prozesstaktik getragen.“ (Nebenklage-Anwalt Karaahmetoglu in seinem Plädoyer) „Wir haben in diesem Fall eine beispiellose Vorverurteilung erlebt. Es gab keine Spur von Schutz des jugendlichen Täters... Das Gericht wird bei der Strafe berücksichtigen müssen, dass der Angeklagte in Zukunft ein Leben in Angst führen muss.“ (Verteidiger Heinz-Jürgen Borowsky in seinem Plädoyer)  „Egal, was hier dabei rauskommt, ich muss damit leben, dass wegen mir ein Mensch tot ist. Der Schlag war der schlimmste Fehler meines Lebens. Ich kann nur sagen, dass es mir leid tut.“ (Sanel M. in seinem Schlusswort)

Am Tag des Urteils, 16. Juni „Er wollte ihr ordentlich eine langen. Ganz sicher, das wollte er. Aber was dann folgte, wollte er sicher nicht.“ (Richter Jens Aßling über Sanels Motive für den verhängnisvollen Schlag) „Dieser Verlust ist durch kein Urteil dieser Welt wieder auszugleichen. Damit müssen Sie leben, so schwer es fällt“ (Richter Aßling an die Familie Tugces gewandt) „Jetzt besteht die Chance, eine Zäsur in seinem Leben zu setzen. Sein Leben kann man noch retten. Das von Tugce nicht mehr.“) (dpa)

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