zum Hauptinhalt

Vergangenheitsbewältigung: Das schwere Erbe der NS-Zeit

Immer mehr Kinder und Enkel von NS-Tätern suchen Hilfe. Sie leiden an den Verbrechen ihrer Vorfahren. Ein Berliner Seminar soll sie unterstützen.

Gertrud* war 50 Jahre alt, als sie zufällig ein Bild ihrer Mutter in der Zeitung entdeckte. Das Foto zeigte die Frau in einer Gruppe fröhlich lachender SS-Helferinnen in einem Erholungsheim in der Nähe von Auschwitz. „Der Fotobeweis war ein blitzartiger Schock“, sagt Gertrud. Aber so schmerzhaft sich dieser auch anfühlte, wenigstens hatte sie nun endgültig Gewissheit.

Dass es ein dunkles Geheimnis in ihrer Familie gab, hatte sie schon lange geahnt. Als sie noch ein Kind war, hatte die Mutter – eine gefühlskalte Frau – sie Tag für Tag schikaniert und geschlagen. Und kurz bevor Gertrud das Bild in der Presse sah, spürte sie bei einem Besuch in der KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen, dass die Mutter in die Verbrechen der Nazis verstrickt sein musste. Weinend bat sie vor den Massengräbern um Verzeihung für die Taten ihrer Eltern. Der Vater, der Soldat in der Wehrmacht gewesen war, hatte hier einst als deutscher Kriegsgefangener die Leichen der Opfer begraben.

Heute ist Gertrud Mitglied im „Internationalen Freundeskreis der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück“. Über 4000 zumeist junge Frauen arbeiteten während der Nazi-Zeit in den KZs, erzählt sie und ergänzt: „Es gibt viele Kinder und Enkel, die von den Verbrechen ihrer Omas nichts wissen.“ Gertrud ist Künstlerin, gerade entwickelt sie ein Projekt, in dem sie ihre Familiengeschichte thematisieren will. Ob sie die Mutter darin direkt erwähnt, weiß sie noch nicht. Wenn es um die Vergangenheit der Familie geht, wird die selbstbewusste und politisch engagierte Frau, die sonst kein Blatt vor den Mund nimmt, schweigsam. Zu groß ist die Scham. Deshalb trägt sie in diesem Artikel auch einen anderen Namen.

In der Vergangenheit haben sich viele Nachfahren von Nazis aus der NS-Führungsriege öffentlich mit ihrer schwierigen Familiengeschichte auseinandergesetzt. Katrin Himmler und Richard von Schirach zum Beispiel haben Bücher geschrieben, und schon in den 80er Jahren schockierte Niklas Frank, Sohn von Hans Frank, dem NS-Generalgouverneur im besetzten Polen, die Leser des „Stern“ mit einer schonungslosen, verstörenden Abrechnung mit seinem Vater.

Wie die Kinder und Enkel der zahlreichen anderen NS-Täter mit der Schuld ihrer Vorfahren umgehen, ist dagegen kaum bekannt. Erst jetzt, fast 70 Jahre nach Kriegsende, beginnen sie langsam darüber zu sprechen.

„In den KZ-Gedenkstätten melden sich seit ein paar Jahren immer mehr Angehörige von ehemaligen Wachmännern, KZ-Aufseherinnen oder SS-Ärzten“, berichtet die Historikerin Simone Erpel, die die Ausstellung „Hitler und die Deutschen“ kuratierte, die vergangenes Jahr im Deutschen Historischen Museum zu sehen war. „Sie wollen wissen: Was machte mein Großonkel, mein Opa oder meine Mutter im KZ?“ Bei ihrer Suche nach Dokumenten bräuchten diese Leute auch emotionale Unterstützung.

Die Angst vor der revanchistischen Entgleisung

Beistand finden sie seit 2008 zum Beispiel bei speziellen Wochenendseminaren, die das private Hanuman-Institut in Charlottenburg vier Mal im Jahr organisiert. Auch Gertrud hat an einem solchen Seminar teilgenommen, das von zwei Coaches geleitet wird und 200 Euro kostet. In jeder Seminargruppe gibt es maximal zehn Teilnehmer. Sie reden sich mit Du und Vornamen an, was eine gewisse Anonymität ermöglicht. Zwei Drittel sind Frauen zwischen 40 und 50.

Unter anderem basierend auf den Methoden des US-Psychologen Arnold Mindell bietet das Institut Lebenshilfe in verschiedensten Bereichen an. In den Räumen an der Schlossstraße stehen tiefe, rote Sessel, auf dem Boden liegt ein kuscheliger weißer Teppich, und an den Wänden hängen große Landschaftsbilder. Man fühlt sich wie in einem Wohnzimmer. Die angenehme Atmosphäre soll es den Teilnehmern einfacher machen, sich vor anderen zu öffnen.

Die Seminarleiter wissen, was das Reden hemmt. Etwa die Angst vor der revanchistischen Entgleisung. Jemand könnte auf die Idee kommen, die Leiden der Täterkinder und -enkel gegen die Leiden der jüdischen Nachkommen aufzurechnen. „Unsere Arbeit bedeutet nicht, dass wir das Leid der jüdischen Familien vergessen oder reduzieren“, betont Seminarleiterin Tanja Hetzer, eine promovierte Historikerin. „Kinder und Enkel, die an den Nachwirkungen der Verbrechen ihrer Vorfahren leiden, brauchen Unterstützung für die Aufarbeitung. Das ist die beste Vorsorge, damit die Geschichte sich nicht wiederholt.“

Manche Kinder oder Enkel sagen zwar, sie hätten nicht das Gefühl, mitschuldig zu sein, die Verbrechen ihrer Vorfahren quälen sie dennoch. So berichtet der 43-jährige Florian* im Seminar von einem „komischen, diffusen Schuldgefühl“. In seiner Familie hieß es immer bloß knapp, der Opa sei ein „überzeugter Nazi“ gewesen. Bis heute weiß Florian nicht genau, was sein Großvater im Krieg gemacht hat. Beim Seminar wagt er die Vermutung, es könne einen Zusammenhang geben zwischen seiner Familiengeschichte und der Psychose, unter der er mit 18 Jahren litt.

Diese Theorie mag seltsam klingen – Psychologen halten sie jedoch für plausibel. Auch Seminarleiterin Tanja Hetzer glaubt: „Wenn die Täter für ihre persönliche Schuld an begangenen Verbrechen nicht in vollem Umfang einstehen, sinkt die Schuld ins familiäre Unterbewusstsein.“ In der nächsten Generation werde sie dann häufig als eine fremde Last empfunden. Diese „fremden“ Schuldgefühle können sogar Wut gegen diejenigen auslösen, die an die Verbrechen erinnern. Das trifft dann die Falschen: die Nachkommen der Opfer.

„Ein wichtiger Schritt besteht darin, sich an die Fakten zu wagen“, sagt Historikerin Simone Erpel. Die meisten haben Angst davor. Sie fürchten, aus der Familie ausgeschlossen zu werden, wenn sie unangenehme Fragen stellen. So ist auch zu erklären, warum viele Nachkommen erst jetzt, so viele Jahre nach dem Krieg, ihr Schweigen brechen und mit den Recherchen beginnen. Als die Täter-Verwandten noch lebten, trauten sie sich das einfach nicht. Andere schrecken vor Nachforschungen zurück, weil sie befürchten, dass die Gewalttaten, etwa des Großvaters, so brutal gewesen sein könnten, dass es kaum erträglich wäre, mit diesen im Detail konfrontiert zu werden. Vor allem aber kann es extrem schwierig sein, das Bild des geliebten Verwandten mit dem Bild eines fanatischen NS-Täters zu verbinden.

Nicht verantwortlich für die Tat - aber für den Umgang mit dem Wissen darum

Dieses Problem hat auch die 68-jährige Brigitte*. Bekäme sie einen Beweis dafür, dass ihr Vater „auch nur einen einzigen Menschen“ umgebracht hat, fände sie das „schrecklich“. Dabei weiß Brigitte, die aus dem Rheinland stammt, dass ihr Vater Obersturmbannführer in der Waffen-SS war – einer Organisation, die Heinrich Himmler unterstand und die an zahlreichen Kriegsverbrechen und am Holocaust direkt beteiligt war.

Brigitte bezeichnet ihren Vater als einen „naiven, träumerischen, künstlerischen und hochbegabten Menschen“. Er sei in die Waffen-SS „reingestolpert“, weil er nach einem „Männerbund“ gesucht habe, um „Zucht und Ordnung in sein Leben zu bringen“. So hat er es ihr auf ihre Fragen hin erzählt, zuletzt sogar noch einmal auf dem Sterbebett. Für die Taten ihres Vaters empfinde sie „keine Scham- oder Schuldgefühle“. Deswegen liegt Brigitte seit Jahrzehnten im Streit mit ihrer ältesten Schwester – das ist der Grund, warum sie sich für das Seminar angemeldet hat.

Viele Geschwister, die als Nachfahren von NS-Tätern aufwuchsen, sind untereinander heftig zerstritten. „Das Gesicht des liebevollen Vaters und dasjenige des NS-Verbrechers zusammen zu denken und zu fühlen geht nicht“, sagt Hetzer. Daher gebe es in den Familien oft eine Spaltung, das eine Kind liebe den Vater über alles, das andere hasse ihn von ganzem Herzen.

Im „Schutzraum des Seminars“ seien „alle Formen des inneren Erlebens“ erlaubt, sagt Achim Goeres, ebenfalls Seminarleiter. Dazu gehört auch die bewundernde Liebe für einen Vater – ob er nun ein Nazi war oder nicht. Erst in einem zweiten Schritt versuchen die Seminarleiter, diese Liebe mit der Wahrnehmung der väterlichen Verbrechen zu verbinden. „Nur so sind die gespalteten Gefühle zu den Vorfahren langsam auszuhalten“, so Goeres.

Das Seminar soll auch die anhaltende Prägung der NS-Ideologie unter den Nachkommen aufdecken. „Mit den Taten der Deutschen muss es ein Ende haben“, begründete eine Teilnehmerin ihre eigene Sterilisation. Diese radikale Haltung erinnert Tanja Hetzer an die NS-Ideologie über wertes und unwertes Leben: „Manche Deutsche der zweiten und dritten Generation fühlen sich nicht wert, ihr Leben weiterzugeben.“ Einige fragen offen: Steckt auch in mir das Gewaltpotenzial, das meine Vorfahren hatten?

Hetzer und Goeres ermutigen die Seminarteilnehmer dazu, sich selbst besser kennenzulernen. Denn Empathie für die eigene Person, für die eigene Familiengeschichte und insbesondere für den Körper stempeln diese oft als peinliche Nabelschau ab. „Genau wie damals, als nur die ,Volksgemeinschaft’ und nicht der Einzelne zählte“, sagt Hetzer. Viele ihrer Klienten würden sich in ihre Arbeit hineinsteigern und sich dabei nicht mehr wahrnehmen – bis hin zum Burnout. In den Seminaren stellt Tanja Hetzer auch klar, dass das Einfühlen in sich selbst nicht bedeute, dass man die Nazi-Opfer vergesse. Im Gegenteil: Nur so könne man wahres Mitgefühl entwickeln.

Natürlich sei die zweite und dritte Generation nicht schuldig für NS-Taten. Aber sie sei verantwortlich dafür, das Wissen über die Verbrechen wenigstens in der Familie und möglichst auch darüber hinaus bekannt zu machen. Denn wenn man die Täter und das, was sie getan haben, öffentlich benenne, erkenne man damit auch das Leid der Opfer an.

Gertrud, die erst mit 50 erfuhr, dass ihre Mutter KZ-Aufseherin in Auschwitz war, hat das Seminar geholfen. „Das Reden vor anderen tat mir sehr gut“, sagt sie. „Am Ende merkte ich, wie die körperliche Erstarrung, die ich in meinem Leben durch meine Mutter annahm, förmlich von mir abfiel.“

* Namen geändert

Geneviève Hesse

Zur Startseite