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Panorama: Verwunschen und verstoßen

Im Kongo werden immer wieder Kinder der Hexerei bezichtigt und von ihren Familien auf die Straße gesetzt

Von Wolfgang Drechsl er

Kannibalismus, Krankheit und Anarchie – das Bild der Europäer vom Kongo gleicht einem einzigen Schreckgemälde. Seit Joseph Conrad das zentralafrikanische Land 1902 in seinem gleichnamigen Buch als das „Herz der Finsternis“ beschrieb, hat sich die Metapher tief in das Bewusstsein vieler Weißer eingegraben. Und in der Tat scheinen die jüngsten Meldungen aus der Region diejenigen zu bestätigen, die im Kongo schon immer ein Synonym für die völlige Andersartigkeit von Afrika gesehen haben. Die Vereinten Nationen haben gerade in dieser Woche eine Resolution erlassen, in der sie eine Rebellenbewegung im Nordosten Kongos auffordern, unverzüglich ihre kannibalistischen Praktiken zu stoppen.

Auch soll es im Land inzwischen ganze Heerscharen von Kindern geben, die der Hexerei bezichtigt werden. Diesen Berichten zufolge soll es allein in der Hauptstadt Kinshasa über 40 000 Straßenkinder geben, die aus dem Haus geworfen wurden, weil ihre Familien sie für Unglücksbringer halten. Bei den so genannten „Kinderhexen“, zu denen Jungen wie Mädchen gehören, handelt es sich um ein neueres Sozialphänomen: Während die Kongolesen die Schuld am Niedergang des Landes und ihren damit verbundenen Problemen früher zumeist der korrupten Führung gaben, haben sie nun offenbar einen neuen Sündenbock auserkoren: jugendliche Geisterbeschwörer. Schon wegen der hohen Kinderzahl ist es oft nicht schwer, in einer Familie jemanden zu finden, den man für die eigene Misere oder die eines Dorfes verantwortlich machen kann.

Simeon Mesaki, der an der Universität von Daressalam seit mehr als 20 Jahren die Hexerei erforscht, schildert seine wichtigste Erkenntnis so: „Für viele Menschen in Afrika gibt es keinen rationalen Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung. Wenn jemand plötzlich krank wird, sind daran nicht etwa Bakterien, Viren oder der Lebensstil des Betroffenen schuld, sondern der Nachbar, der Lehrer, ein Onkel oder eben das eigene Kind, das mit bösen Mächten paktiert“. Bestätigt wird dies von dem emeritierten südafrikanischen Anthropologieprofessor Victor Ralusha, der seinerseits darauf hinweist, dass im afrikanischen Glauben Harmonie die Welt regiert. Eine Störung des Einklangs, etwa durch Blitzschlag oder Krankheit, wird deshalb rasch der Hexerei zugeschrieben.

„Entlarvt“ werden die meisten Täter zumeist durch Träume. „Träumt einer, dem Schlimmes widerfahren ist, zum Beispiel von seinem Kind, dann ist eben der eigene Sprössling verwunschen und muss verstoßen werden“, sagt Mesaki. Ob ein nicht bestandenes Examen, eine schlechte Ernte oder ein Unfall – alles kann auf die Hexerei zurückgeführt werden. Vor zwei Jahren wurden hunderte von Kindern in der kongolesischen Diamantenstadt Mbuji-Mayi von ihren Familien ausgesetzt, weil sie für den Preisniedergang der funkelnden Steine verantwortlich gemacht wurden.

Selbst besser ausgebildete Kongolesen sind von den bösen Kräften der Kinder überzeugt, so sehr diese auch ihre Unschuld beteuern mögen. Eines der verstoßenen Kinder, ein neunjähriger Junge, erzählte der BBC vor kurzem, dass er nach einem Gebet am Totenbett seiner Mutter beschuldigt worden sei, diese mit Aids getötet zu haben. Andere Kinder wurden für das gleiche Vergehen zu weit entfernt lebenden Verwandten geschickt, die ihnen wenig zu essen gaben und ihr spindeldürres Aussehen dann als Beweis dafür ansahen, dass es sich bei den Kindern tatsächlich um Hexen handelte. „Unzweifelhaft ist, dass das Hexen- und Zauberwesen in Afrika tief verankert ist und eine kulturell wichtige, häufig sogar politische Rolle bis hinauf zur Regierung und zum Staatspräsidenten spielt“, sagt Andreas Steiner, der 15 Jahre lang als Arzt in verschiedenen ländlichen Gebieten Afrikas gearbeitet hat. Seine Schlussfolgerung: „Ich kann nicht umhin, dieses Unwesen als einen der Hauptgründe zu bezeichnen, warum Afrika in vielen Bereichen stagniert.“ Selbst im industrialisierten Südafrika ist der Aberglaube noch immer weit verbreitet. Schätzungen veranschlagen den Anteil der schwarzen Südafrikaner, die an Zauberei glauben und regelmäßig einen Inyanga, einen Medizinmann, aufsuchen auf 70 bis 85 Prozent. Mit dem Zerfall des Kongo ist auch das gesamte Sozialsystem des Landes unter Druck geraten. Die Regierung in Kinshasa ist so sehr mit dem eigenen Überleben beschäftigt, dass sie sich nicht um die vielen obdachlosen Kinderhexen kümmert. Wie so oft bleibt das Problem an westlichen Hilfsorganisationen hängen. Doch selbst dort stoßen die Kinder bisweilen auf Vorbehalte. Ein kongolesischer Mitarbeiter des Kinderhilfsprogramms einer US-Agentur wird im Londoner „Economist“ mit den Worten zitiert: „Unser größtes Problem besteht heute darin, die wirklichen von den unschuldigen Kinderhexen zu unterscheiden.“

Wolfgang Drechsl

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