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Panorama: Von wegen schulfrei

Bill und Tom von Tokio Hotel müssen jetzt büffeln, weil ihre Internet-Schule keine Ferien kennt – strenge Kriterien für die Aufnahme

Bereits ein Jahr waren die Zwillinge Bill und Tom der Teenie-Band Tokio Hotel von der Schule komplett beurlaubt, um sich ganz ihrer Musik widmen zu können. Jetzt sind die beiden 16-Jährigen von Magdeburg nach Hamburg umgezogen und haben eine neue Sondererlaubnis bekommen: Sie müssen für ihren Realschulabschluss nicht in eine normale Schule gehen, sondern dürfen online an einer so genannten Internet-Schule pauken. Kein schrecklich frühes Aufstehen, kein Drängeln im Bus, nicht die ganze Zeit in einem Klassenzimmer hocken, stattdessen Matheaufgaben per Mausklick lösen, wenn man mal grad Lust und Laune hat? Viele werden denken: „Cool, ich will auch auf eine Internet-Schule.“ Doch ganz so lässig geht es nicht zu. Während jetzt alle anderen Schüler ihre sechswöchigen Sommerferien genießen, brüten die Jungstars von Tokio Hotel über ihren Internet-Hausaufgaben. Das bestätigte die Leiterin der Internet-Schule, Jennifer Krautscheid, dem Tagesspiegel. Denn: Ferien gibt es nicht an der staatlich anerkannten „Web-Individualschule“ mit Sitz in Bochum. „Außerdem erfordert es ein hohes Maß an Selbstdisziplin, sein Lernpensum täglich selbst zu organisieren, ohne den Zwang von außen“, sagt Krautscheid.

Über die Internetseiten können die Schüler ihre individuell für sie zurechtgeschnittenen Lernpakete herunterladen, handschriftlich bearbeiten und dann per Post zur Korrektur in die Ruhrgebietsstadt zurückschicken. Auf diesem Wege können die Schüler über die Privatschule Zertifikate erwerben, mit denen sie dann abschließend an einer Schule ihres Wohnortes ihre staatlichen Prüfungen für den Haupt- oder Realschulabschluss oder das Fachabitur ablegen können. Dafür allerdings müssen die Prüflinge leibhaftig in einer ganz normalen Schule erscheinen.

Derzeit betreut die Bochumer Internet-Schule 35 Jugendliche aus ganz Deutschland. Darunter nicht nur Promis, sondern auch viele Hochbegabte, im Ausland lebende deutsche Schüler und Problemkinder wie etwa Schulverweigerer, die in einer normalen Schule nicht mehr integrierbar waren. Doch die Auflagen sind in Deutschland sehr streng, um überhaupt die staatliche Erlaubnis zu bekommen, via Internet-Schule zu lernen. Voraussetzung ist, dass die Kinder nicht am normalen Unterricht teilnehmen können. Gründe dafür können sein: wenn sie mit ihren Eltern im Ausland leben, Leistungssportler oder Künstler sind, wie die Zirkuskinder keinen festen Wohnsitz haben oder aber längerfristig im Krankenhaus bleiben müssen. Die Entscheidung darüber, ob jemand von der Schulpflicht befreit wird, fällt das jeweilige Kultusministerium. So gab es in Berlin laut Schulbehörde in den vergangenen zehn Jahren nur vier, fünf Fälle, in denen die Erlaubnis zum Besuch solch einer „Ersatzschule“ gewährt wurde. Eine allgemeine rechtliche Ausnahmeregelung gibt es allerdings nicht, generell besteht eine Schulpflicht bis zum 18. Lebensjahr. Die Behörden haben jedoch die Möglichkeit, Einzelfälle zeitlich begrenzt vom normalen Schulbesuch zu befreien, üblicherweise für bis zu einem Jahr. Und Verlängern ist schwierig. In Magdeburg lief die Beurlaubung von Bill und Tom Kaulitz nach den Sommerferien aus. Theoretisch hätten sie dann wieder zur Schule gemusst. Vor einem Jahr hatte das sachsen-anhaltinische Kultusministerium sie mit der Begründung beurlaubt, dass man den jungen Stars von Tokio Hotel nicht ihre Chancen in der Musikbranche verderben wolle. Außerdem sei ein normaler Unterricht für die zwei nicht mehr möglich gewesen, da hunderte Fans tagtäglich die Schule belagert hätten. Ein Ministeriumssprecher zeigte sich enttäuscht, dass die Jungs nach Hamburg umzogen, ohne auch nur nachzufragen, ob eine Verlängerung der Befreiung in Magdeburg möglich sei: „Wir hätten sicher eine kreative Lösung für die beiden gefunden.“

„Kreative Lösung?“ Die Wortwahl darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Schulpflicht in Deutschland sehr ernst genommen wird. Wer ohne Ausnahmegenehmigung der Schule wochenlang fernbleibt, begeht rechtlich eine Ordnungswidrigkeit, was einen Bußgeldbescheid zur Folge haben kann. Bei der Verhängung von Strafen für Schulschwänzer und ihre Eltern reagieren die Bundesländer unterschiedlich liberal oder restriktiv. In Hamburg gibt es eine spezielle Einsatztruppe für „Schulkrisenfälle“. Sie setzt die Schulpflicht notfalls mit Zwang durch und liefert Schüler persönlich ab. Eltern, die sich weigern, ihre Kinder in die Schule zu schicken, droht in Hamburg sogar eine „Erzwingungshaft“.

In Österreich, Dänemark, Schweden, Frankreich, Großbritannien, den USA und Australien gibt es übrigens nur eine so genannte Bildungspflicht, die statt durch Schulbesuch auch durch Hausunterricht oder „Unschooling“ (selbstständiges Lernen) erfüllt werden kann.

Die Internet-Schule:

www.web-individualschule.de

Telefon: 0234 - 29 87 99 61

Karin Wollschläger

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