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© dpa

Vorweihnachtszeit: Wie der Adventskranz erfunden wurde

In einem Heim für verwahrloste Kinder entzündete Johann Hinrich Wichern am Sonntag, den 1. Dezember 1839 eine Kerze. Er wollte die Mädchen und Jungen retten - und die Kirche gleich mit.

Die erste Eisenbahn war stampfend durch Deutschland gerollt, das Zeitalter der Industrieschlote, Kohlezechen und Mietskasernen hatte begonnen, da zündete ein Mann vor den Toren Hamburgs eine stille Kerze an. Am nächsten Tag folgte die zweite, am Tag drauf die dritte. "Je mehr Lichter brennen, desto froher werden die Knaben und Mädchen", schrieb der Mann. "Und brennt der volle Kranz mit allen 24 Lichtern, dann ist er da, der heilige Christ in all seiner Herrlichkeit."

Damit ist der erste Adventskranz überhaupt lokalisiert - er hing im Dezember 1839 im Kinderheim Rauhes Haus in Horn bei Hamburg. Johann Hinrich Wichern, Theologe und Vorsteher des Heims, wollte die verwahrlosten Kinder zum Christentum führen, und er glaubte an die Kraft des Rituals: Auf einem Leuchter im Betsaal entzündete er, am ersten Adventssonntag beginnend, täglich eine Kerze, sonntags eine große weiße, an den Werktagen eine kleine rote. Die Erwartung der Kinder sollte geschürt werden wie ein Feuer, und am Ende, am Heiligabend, sollte es taghell brennen.

Vom protestantischen Hamburg aus verbreitete sich der Kranz wohl durch die Erzieher des Rauhen Hauses im Land. Zur Verstärkung wurden sie oft in andere Städte gerufen. Mit vier Kerzen fand man den Kranz erstmals 1925 in einer katholischen Kirche in Köln, so hat er sich in Deutschland, Österreich und der Schweiz durchgesetzt.

Keimzelle der modernen Diakonie

Doch in den meisten Häusern, in denen man heute die Kerze entzündet, kennt man den Namen Wichern nicht. Dabei ist seine Lebensleistung beeindruckend: Zu Zeiten, in denen Kinder wenig galten, gab der 1808 in Hamburg geborene Wichern ihnen eine Heimat im Rauhen Haus. Das Haus gibt es noch immer, heute betreuen seine Mitarbeiter etwa 1400 Kinder, Behinderte und psychisch Kranke. Der Ort kann als Keimzelle der modernen Diakonie gelten, für sie arbeiten heute mehr als 450.000 Menschen.

Dass Wichern in Vergessenheit geriet, mag daran liegen, wie schwer man ihn mit einigen Worten erfassen kann. Zu widersprüchlich ist er: Stets ein Mann des Glaubens, war er nie ein Amtsträger in der Kirche. Laut Selbstauskunft ein "praktischer Hamburger", zeigte er Unternehmergeist und wurde doch nach Berlin in den Staatsdienst berufen. Sein erklärter Feind war der noch junge Kommunismus, doch forderte er einen christlichen Sozialismus. Er war politisch reaktionär - und gleichzeitig tat er sich als Sozialpädagoge hervor, bevor es diese Berufsbezeichnung überhaupt gab. Damit war Wichern seiner Zeit weit voraus.

"Ich bitte, mir im Geiste in diese Wohnungen zu folgen. In der Tür gerade an wohnt eine Frau, die als Kind mit Mutter und Geschwistern bei Nacht von dem trunkfälligen Vater auf die Straße getrieben zu werden pflegte", schreibt Wichern 1832 in sein Notizbuch. Gerade hat er sein Theologiestudium in Göttingen und Berlin beendet und arbeitet als Lehrer an einer kirchlichen Sonntagsschule in Hamburg. Dort tritt er dem Männlichen Besuchsverein bei, dessen Aufgabe es ist, "hineinzugehen in die Hütten des Elends". Seine Beobachtungen wird Wichern unter dem Titel "Hamburgs wahres und geheimes Volksleben" veröffentlichen, dort steht über eine Familie etwa: "Eltern scheinen nichts zu taugen. (...) Ein Knabe, 13 Jahre alt (...) Kann weder schreiben noch rechnen." Oder: "Den Kindern ist das Herumtreiben eine große Last und sie gingen gern zur Schule, wenn sie könnten und sollten."

Was Wichern erlebt, sind keine Einzelfälle. Bis zu 13 Stunden täglich arbeiten Kinder damals. 1839 wird in Preußen zwar das erste Gesetz erlassen, das versucht, Kinderarbeit einzudämmen, aber nur, weil sich das Militär über den schlechten Gesundheitszustand von Rekruten beschwert hat. Und auch danach dürfen Zehnjährige immer noch zehn Stunden am Tag arbeiten. Finanziell besser geht es ihnen dadurch nicht: Im Jahr 1832 kümmert sich die Hamburger Armenanstalt um 7366 Menschen, 3000 davon sind Kinder.

Unter den Heimkindern: Ein Junge, 92 Mal für Diebstahl verurteilt

Über diese Misere spricht Wichern im Februar 1833 auf einem Fest der Sonntagsschule. Die mehr als 1000 Zuhörer sind so beeindruckt, dass sie freigiebig spenden. Damit hat Wichern das Startkapital für das Kinderheim, das er am 12. September 1833 eröffnet. Der Senatssyndikus Karl Sieveking überlässt ihm eine Bauernkate, ihr Name: Rauhes Haus. Eine passende Bezeichnung, findet Wichern, schließlich ist einer der ersten Bewohner 13 Jahre alt und schon 92 Mal wegen Diebstahl aktenkundig geworden. "Mein Kind, dir ist alles vergeben!", ist der erste Satz, den dieser Junge wie alle Neuankömmlinge im Rauhen Haus hören wird. "Hier ist keine Mauer, kein Graben, kein Riegel; nur mit einer schweren Kette binden wir dich hier (…); diese heißt Liebe und ihr Maß ist Geduld." Solch ein Konzept von Vergebung ist fremd in der damaligen Welt der kasernenförmigen Besserungsanstalten. Von diesen grenzt sich Wichern schon äußerlich ab. Im Rauhen Haus - Wichern nennt es ein Rettungshaus - leben je zwölf Kinder mit einem Erwachsenen, dem sogenannten Bruder, zusammen; dieser Familienverbund, diese Vertrautheit ist Wichern wichtig.

Er glaubt daran, dass gesetzte Gewohnheiten Sicherheit vermitteln können. Nicht nur den Adventskranz gibt es, sondern auch das Apfel-, Kartoffel- und Arbeitsfest und den Großen Spaziergang im Sommer. So wie Wichern ihn beschreibt, klingt er wie eine Pfadfinderunternehmung: "Eine große Fahne voraus (...) ziehen an hundert wanderlustige und kräftige Rauhhäusler morgens in aller Frühe singend und klingend von dannen."

Selbst an Nachsorge - auch das ein Element moderner Pädagogik - denkt Wichern. Er sucht Familien, die seine Zöglingen als Lehrlinge nehmen, und an den Sonntagabenden kehren die Ehemaligen ins Rauhe Haus zurück, um über die Probleme des Lebens draußen zu sprechen. Auch auf die Bedeutung des Spiels weist Wichern lange vor dem Entwicklungspsychologen Jean Piaget hin: "Das Spiel des Kindes", schreibt er, "ist das Produkt seiner innersten Freiheit und seines innersten Wohlbehagens." Ab 1844 wird die Ausbildung der Brüder systematisiert, sie bekommen nun vier Jahre lang Unterricht. 1845 leben 83 Jungen und Mädchen im Rauhen Haus - und mitten unter ihnen Wichern, seine Frau Amanda und ihre eigenen neun Kinder.

Er wollte Gott dienen

Trotz aller Fortschrittlichkeit - in den Lehrbüchern der Sozialpädagogik findet Wichern kaum Erwähnung. Vielleicht rührt die Ratlosigkeit, was seinen Platz angeht, daher, dass Pädagogik für Wichern stets Mittel zu einem höheren Zweck blieb: Er wollte vor allem Gott dienen.

Um die Lage der Kirche damals zu verstehen, hilft ein Blick auf die Metaphorik. Die Christen hatten stets Jesus als "Licht der Welt" bezeichnet, mit einem Mal beanspruchte die Aufklärung diesen Titel für den Verstand. Eindrücklich zeigt das ein Buch des Philosophen Christian von Wolff aus dem Jahr 1720. "Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, den Liebhabern der Wahrheit mitgeteilt", lautet der Titel, zu sehen ist ein aus Wolken hervorbrechender Strahlenkranz, in dessen Mitte das Gesicht eines Menschen sitzt.

Während sich die gebildeten Leute also mit dem Verweis auf die Strahlkraft des Verstandes von Gott entfernen, gehen die Armen in den dunklen Ecken der Städte verloren. Längst sind Gemeinden keine Herden mehr, eher unüberschaubare Horden. Der Hamburger Stadtteil Sankt Georg etwa hat zu dieser Zeit 8000 Gemeindemitglieder, aber nur einen Pastor. Die Religiösität der Menschen schwindet: Zu Gottesdiensten kommen mitunter nur noch zwei, drei Personen, und wenn mal einer den Pastor sprechen will, geht es meist um Geldsorgen.

Die Pastoren beklagen dies, Johann Hinrich Wichern will von so einem Lamento nichts wissen. Er kritisiert das Beharren auf Amt und Würden und die Unbeweglichkeit der Kirche. So gilt damals noch eine Kleiderordnung für die Kirche - was die Armen, die kaum etwas anzuziehen haben, aussperrt.

Wichern selbst gehört der Erweckungsbewegung an. Die Kirche müsse zu den Menschen kommen, wenn diese ihren Weg nicht in selbige fänden, fordert er, das Land brauche eine Volkskirche. Im Kampf um die Seelen der Proletarier sieht Wichern vor allem einen großen Feind - den Kommunismus. Er sei eine "Systematisierung der sündlichen Gelüste", wettert Wichern. Den Staat hingegen sieht er als gottgegebene Institution und Verbündeten an. Deshalb kommt es nicht von ungefähr, dass Wichern seine flammendste Rede 1848 auf dem Kirchentag in Wittenberg hält, während draußen die Revolution losbricht und Karl Marx das Kommunistische Manifest verfasst. Wichern will verhindern, dass die Menschen ganz zu den Arbeiterführern überlaufen, und ruft nach tätigem Christentum, nach Bibelkursen und Wanderpredigern, nach einer inneren Mission - mit ihr sollen die Menschen erreicht werden, die getauft sind, sich aber von der Religion abgewandt haben. Und Wichern hat Erfolg: Noch auf dem Kirchentag wird der "Central-Ausschuss für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche" gegründet, der die Aktivitäten der zersplitterten Landeskirchen zusammenführen soll. Er ist der Vorläufer des Diakonischen Werkes, das seit 1957 existiert.

Wichern, 40 Jahre alt, ist 1848 auf dem Höhepunkt seines Schaffens angelangt, 1851 bekommt er die Ehrendoktorwürde in Halle verliehen, ist als Experte überall gefragt. "Ich könnte nichts thun als reisen, reden, begutachten", schreibt er seiner Frau von einem Aufenthalt in Berlin. Aber sein Festhalten an den überkommenen politischen Strukturen, während er die Kirche modernisiert, wird ihn noch in Schwierigkeiten bringen.

Dass Wichern die Arbeiterbewegung rundweg ablehnt, hat seinen Grund vielleicht in einer an sich lobenswerten Eigenschaft des Theologen. Wichern beweist damit Treue gegenüber seinen Gönnern, allesamt Angehörige der oberen Schicht. Wicherns Eltern waren arme Leute, die sich hochgearbeitet hatten. Ursprünglich Fuhrmann und Mietkutscher, brachte sich der Vater im Selbststudium zehn Sprachen bei und schaffte es so bis zum Notar. Der Erfolg währte nicht lang: Johann Hinrich Wichern ist erst 15, da stirbt der Vater. Der Junge muss das ehrwürdige Hamburger Gymnasium Johanneum verlassen und Privatstunden erteilen. Dabei lernt er Senator Martin Hudtwalcker kennen, dieser wird ihm das Studium mitfinanzieren und später das Rauhe Haus unterstützen. Immer wieder begegnet Wichern solchen Vaterfiguren, die ihm mit Geld aushelfen und ihn ideell befeuern. Beim Geschichtsprofessor Karl Friedrich August Hartmann isst er einmal die Woche zu Mittag, aus Kostengründen, und Hartmann ist es auch, der Wichern mit der Idee der Rettungshäuser bekannt macht. In Weimar gibt es ein solches schon, den Lutherhof, der nach den napoleonischen Kriegen Waisenjungen aufnahm. Hartmann selbst trägt sich mit dem Gedanken, ebenfalls eine solche Einrichtung zu eröffnen; bevor er es tun kann, stirbt er. "Über heute bin ich zum zweitenmal Waise geworden", schreibt Wichern.

Die Stimmung wendet sich

Das Rauhe Haus wird also auch ein Andenken an seinen Lehrer sein - und der Ausgangspunkt für landesweite Bemühungen. 1853 stattet Friedrich Wilhelm IV. dem Rauhen Haus einen Besuch ab. Der König sei "entzückt", teilt man Wichern danach mit. In der Folge wird der Theologe vom König mit der Reform des Gefängniswesens betraut. Ab 1857 ist er nur noch den Sommer über in Hamburg und den Winter in Berlin. Wichern will die Haftanstalt Moabit zum Modellgefängnis machen, nicht mehr ehemalige Soldaten führen die Aufsicht, sondern christliche Brüder. Zu deren Ausbildung gründet Wichern 1858 das Evangelische Johannesstift Berlin.

Doch die Stimmung wendet sich gegen ihn: Friedrich Wilhelm IV. wird krank, sein Bruder, deutlich liberaler eingestellt, übernimmt die Geschäfte, und die Parlamentarier protestieren zunehmend dagegen, dass Kirchenleute sich in Staatsangelegenheiten einmischen. 1863 wird der Vertrag für die Brüder nicht verlängert, und Wichern kehrt ganz nach Hamburg zurück. Das Zwischenspiel in Berlin hat seine Kräfte geschwächt, 1866 erleidet er einen ersten Schlaganfall, es folgen weitere. "In meinem Innern ist fortwährend Nacht", schreibt er kurz vor seinem Tod im Jahr 1881 ins Tagebuch.

Am Ende von Wicherns Leben war das Licht also am Schwinden, die Kerzen auf dem Kranz leuchten heute noch. Auch etwas anderes hat Wichern den Menschen hinterlassen: 1844 stellte er für die Heimkinder eine Liedsammlung zusammen, durch die Brüder fand sie deutschlandweit Verbreitung. Dafür ausgewählt und ein wenig umgetextet hatte Wichern ein bis dahin weitgehend unbekanntes Lied, der Titel: "Stille Nacht, heilige Nacht".

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