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Waffen in den USA: Die Feuerprobe

Das amerikanische Hinterland ist weißer, ärmer und schlechter ausgebildet als der Rest des Landes. Erklärt das, warum es auf den privaten Waffenbesitz schwört? In Pennsylvania ist ein Polizeichef suspendiert worden, der Sturmgewehre auf Gemeindekosten anschaffte. Das war allerdings nicht der Grund.

Von Anna Sauerbrey

Der schwarze Jeep hält vor der Lehigh Avenue 214, Frackville, Pennsylvania. Im Schaufenster des niedrigen weißen Holzhauses steht „Joseph Nahas, juristische Dienste“. Eine blonde Frau bahnt sich den Weg durch das Gedränge im Vorzimmer. Ein paar Nachbarn sind gekommen und ein paar Reporter. Die blonde Frau trägt ein apricotfarbenes Jackett, falsche Wimpern und ein professionelles Make-up – „Fox“ ist da, der große amerikanische Fernsehsender. Es kann losgehen.

Chief Mark Kessler, der suspendierte Polizeichef des Nachbarörtchens Gilberton, soll ein Statement abgeben. So will es sein Anwalt. Kessler, in Anzug und Lackschuhen, zuckt kurz zusammen, als die Kameraleute das Büro grell ausleuchten.

„Chief, dass ist ihre Chance, das ist ihre Plattform“, sagt die „Fox“-Reporterin. „Sagen Sie uns, was Sie zu sagen haben.“

Kessler betrachtet seine Hände. Sein Gesichtsausdruck ist leer. „Ich bin kein Verrückter“, sagt er. „Ich bin ein guter Kerl. Ich habe eine Frau und Kinder. Jetzt muss ich einen Monat lang ohne Gehalt auskommen. Aber es geht hier nicht um mich. Es geht um mein Land.“

„Chief, ist es richtig, dass Sie aus dem Gemeinde-Etat Waffen gekauft haben?“

„Das war alles legal.“

„Wie viele waren es?“

„Das weiß ich nicht mehr.“

„Ach, kommen Sie, Chief. Ungefähr.“

„Keine 500. Weniger als 20.“

„Tragen Sie jetzt im Moment eine Waffe?“

„Ja.“

„Haben Sie noch Waffen der Gemeinde zu Hause?“

„Ja.“

„Was für welche?“

„Zwei M16.“ Zwei automatische Gewehre, bis zu 900 Schuss die Minute.

„Noch Fragen?“, interveniert der Anwalt. „Nein? Danke, dass Ihr gekommen seid, Leute.“

Chief Mark Kessler aus Frackville, 53 Jahre alt, Polizeichef des 800-Seelenörtchens Gilberton im Nordosten von Pennsylvania und Gründer einer Pro-Waffenrechte-Miliz, wurde vom Gemeinderat für 30 Tage vom Dienst beurlaubt. Er hatte mehrere Videos im Internet veröffentlicht, die man im weitesten Sinne als politische Statements bezeichnen könnte. In einem trägt er Flecktarn und eine Baseballkappe. An einem Gurt über seiner Schulter hängt ein automatisches Gewehr. „Das hier ist für Kerry und diese Schwanzlutscher von der UN“, bellt er in die Kamera. Dann ballert er mit einem automatischen Gewehr ins Gebüsch, die leeren Patronenhülsen beschreiben einen Bogen über seinem Kopf.

Der Chief hatte sich darüber geärgert, dass US-Außenminister John Kerry angekündigt hatte, das Abkommen der Vereinten Nationen über die Regulierung des Waffenhandels zu unterzeichnen. In einem anderen Video trägt Kessler seine Polizeiuniform und schießt auf eine Zielscheibe von der er sagt, das sei Nancy Pelosi, die Fraktionsvorsitzende der Demokraten im Repräsentantenhaus. Pelosi macht sich seit dem Massaker an der Sandy-Hook-Grundschule im Dezember 2012 für einen überparteilichen Gesetzentwurf für schärfere Waffenkontrollen stark. Die offizielle Begründung für Kesslers Suspendierung lautet: unbefugte private Verwendung von Gemeindeeigentum. Kessler hatte sich mit seiner Dienstwaffe gefilmt.

Kesslers Videos machten ihn berühmt. Rechte Internetsender feierten ihn als Märtyrer, dem das Maul verboten werden solle. Schließlich wurde auch „Fox“ auf ihn aufmerksam.

Seit Barack Obama an der Macht ist, seit das urbane, liberale Amerika den Präsidenten stellt, wächst der Frust am anderen Ende des politischen Spektrums. Radikale Splittergruppen haben Zulauf, Milizen wie die von Chief Kessler erleben eine Renaissance. Bei seiner jährlichen Zählung Ende 2012 kam das „Southern Poverty Law Center“, eine Bürgerrechtsorganisation, die in den 70er Jahren in Alabama gegründet wurde, auf 1360 verschiedene Gruppen, eine Steigerung um das Achtfache in vier Jahren. Die Gruppen haben untereinander kaum Kontakt.

Was sie verbindet ist die Vorstellung, die amerikanische Regierung würde mit den internationalen Eliten gemeinsame Sache machen, um den Amerikanern ihre Freiheit – und ihre Waffen – zu nehmen. Auch das FBI beobachtet verstärkte Aktivitäten ultra-libertärer, fremdenfeindlicher und milizionärer Gruppen – und das keineswegs nur im Süden oder im mittleren Westen. Mark Potok, der die Milizen für das „Southern Poverty Law Center“ beobachtet, sagt: „Das ist ein ländliches Phänomen, ein Phänomen aus Backcountry America.“

Chief Kessler entspricht in Perfektion dem Bild des „Backcountry“, des amerikanischen Hinterlands, wie man es sich in liberalen, urbanen Lebenswelten von den einsame Landstrichen und ihren Bewohnern macht: Waffennarren, die riesige Pick­up-Trucks fahren und am Wochenende ihren Frust ablassen, indem sie durch die Wälder streifen und mit automatischen Gewehren Rehe abknallen. Auf jeden Vorstoß, der sie darin einschränkt, reagieren sie höchst allergisch. Geschichten wie die von Mark Kessler erzählt man sich an Orten wie Philadelphia mit einem Schaudern. Und vergisst sie dann wieder.

Der Chief habe geflucht? Na klar, sagt ein Unterstützer. „Das zeigt doch die Wut da draußen.“

Backcountry America hat keine Grenzpfosten. Während die Skyline von Philadelphia im Rückspiegel verschwindet, werden die Grundstücke größer, die Garagen zu Scheunen, die Gärten zu Maisfeldern, die Maisfelder zu Wäldern – und dann tauchen die ersten Relikte der Kohleindustrie auf, verlassene Fabrikgebäude, von Rost zerfressene Entwässerungsrohre, schwarzer Schutt. Kohle interessiert in Pennsylvania niemanden mehr, die Politik setzt auf Fracking, Rohstoff-Milliarden werden jetzt mit Schiefergas verdient, anderswo im Bundesstaat.

Am Ortseingang von Frackville gibt es eine Pizzeria und eines jener altmodischen Diner-Lokale, in denen der Blaubeerkuchen unter Glasglocken auf dem Tresen steht und auf jedem Tisch eine kleine Jukebox, ein Quarter, ein Song, Frank Sinatra oder Dire Straits. Die Hauptstraße, an der Kesslers Anwalt sein Büro hat, wird gesäumt von niedrigen Holzhäusern. In einem der Schaufenster: vergilbte Computermonitore aus den 90er Jahren. Die Tür zum Haus auf der anderen Seite des Anwaltsbüros ist vernagelt. Die früheren Bewohner haben ihre Gartenstühle auf der Veranda zurückgelassen.

Nach der Pressekonferenz, der schwarze Jeep mit der „Fox“-Reporterin ist davon gebraust, fragt der Chief: „Wie ist Deutschland so? Ich meine, die Gesellschaft?“

Seine Stimme ist anders als in den Videos. Weniger Rottweiler. Weniger Metall. Dass in Deutschland der Verkauf und das Tragen von Waffen allgemein untersagt sind, erstaunt ihn. Er hat das Land, sein Land, noch nie verlassen. Früher war er mal Minenarbeiter, er hat selbst gekündigt und wollte lieber auf die Polizeischule. Wenn der Gemeinderat ihn wirklich entlässt, werde er sich ganz seiner „Gruppe“ widmen. Damit meint er die Waffenrechte-Miliz, die er im April gegründet hat. Dann muss Kessler zum nächsten Termin. Er, sein Anwalt und eine Frau in einem geblümten Kleid verschwinden in einem Nebenraum.

Vor dem Büro stehen Kesslers Unterstützer unschlüssig auf der Straße. Ein hagerer Mann aus Gilberton, dem einige Zähne fehlen und der seine grauen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hat, sagt, der Chief sei ein guter Mann und ein guter Polizist und ihm werde Unrecht getan. Ein gepflegter Typ in Bügelfaltenhosen stellt sich als Mitglied der „Constitutional Security Forces“ vor, Kesslers Miliz. Seinen Namen will er nicht nennen. 15 bis 20 Mitglieder habe die Truppe inzwischen. Die Videos von Chief Kessler findet er gut, trotz der vielen Flüche darin und der Schüsse aus einer Dienstwaffe. „Das zeigt doch die Wut da draußen“, sagt er etwas verschämt. „Irgendwas muss man ja tun.“

Andere Bewohner von Gilberton erzählen, dass Kesslers Miliz auch an jenem Tag aufmarschierte, als der Gemeinderat über seine Suspendierung entschied. Eine Frau sagt, sie habe richtig Angst gehabt. Ein Hubschrauber der Bundespolizei soll über dem Ort gekreist sein, während Kesslers Männer schwer bewaffnet durch die Straßen patrouillierten. Bis zu 100 will ein Mann aus Gilberton gesehen haben.

Vor dem Büro auf dem Bürgersteig baut Anthony „Tony“ Antonello sein Stativ zusammen und spricht in das iPhone, das er zwischen seiner Schulter und dem kahlrasierten Schädel eingeklemmt hat.

„Klingt der Sound okay?“, fragt Anthony. „Hey, wenn ich das gleich online stelle, kannst du einen Kommentar posten unter dem Video? Bring es in Umlauf, okay?“ Auf Anthonys T-Shirt steht „Da eine wohl organisierte Miliz für die Sicherheit eines freien Staates notwendig ist, darf das Recht des Volkes, Waffen zu besitzen und zu tragen, nicht beeinträchtigt werden.“ Es ist der Zweite Zusatzartikel zur Amerikanischen Verfassung. Anthony stammt aus Frackville, er betreibt einen Internetsender. Auf die Frage, worüber er sonst so berichte, sagt er: „Ich erzähle die Dinge, wie sie wirklich sind.“ Auf Anthonys Webseite kann man nachlesen, dass die USA ein tyrannischer Polizeistaat sind, nur, dass es keiner weiß, weil die Medien alle mit der Regierung unter einer Decke stecken.

Ein Messer fällt ihm aus der Hosentasche. Es macht Klonk.

Der Assistent, ein schmächtiger Teenager, mischt sich ein. „Anthony ist wie Alex Jones, den kennst du, oder?“ Auch Jones betreibt einen eigenen Webkanal, nur mit mehr Zuschauern. Er vertritt die Ansicht, dass die Regierung selbst an den Anschlägen vom 11. September beteiligt war. „Jones hat gesagt, dass die Nationale Umweltagentur Tests an Waisenkindern erlauben will“, sagt Anthonys Assistent. „Ich dachte erst: Das kann nicht stimmen. Aber google das mal! Da kriegst du superviele Treffer!“

Gilberton, drei Straßen, eine Kirche, sonst nichts, liegt fünf Autominuten von Frackville entfernt in einer Senke. Die Hänge, die den Ort umgeben, sind grün und schwarz gefleckt: Abraumhalden. Mit wenigen Maschinen und einer Handvoll Arbeitern filtert das Minenunternehmen die letzten Kohlepartikel aus dem Schutt und macht sie zu Strom. Der feine schwarze Staub sammelt sich in den Ritzen der Bürgersteige. Es sind viele Türen vernagelt. An einer Veranda erinnern blau-weiß-rote Schleifen an eine Feier zum Unabhängigkeitstag. Der erste Stock ist teilweise eingestürzt.

„Viele der Grundstücke gehören noch dem Minenunternehmen“, sagt Bruce. „Die kümmern sich nicht darum.“ Bruce, braun gebranntes Gesicht, Militärstiefel, schlägt die Tür seines Pick-ups hinter sich zu. Sein Sohn Matt, der neun Jahre alt ist, steigt auf der Beifahrerseite aus. Bruce ist einer der letzten Einwohner von Gilberton unterhalb der Pensionsgrenze. Er ist Instandhaltungsmechaniker. Die Firma hat ihren Sitz ein paar Orte weiter und stellt Spezialgewebe her, für Windeln zum Beispiel. Seine Freundin, Janis, ist Bürokraft in einem Logistikunternehmen. „Wir produzieren ja fast nichts mehr hier in der Region. Kommt alles aus China und Mexiko und Brasilien. Wir machen nur noch die Logistik“, sagt Bruce.

Als das Gespräch auf den Chief kommt, schüttelt er sanft den Kopf. „Er hat die ganze Stadt ins Gerede gebracht. Die meisten meinen, er gehört entlassen. Und das hat nichts damit zu tun, dass wir was gegen Waffen haben. Im Gegenteil. Hier hat jeder eine Waffe.“ Bruce tippt an seine Gürteltasche. Matt ist auf die Ladefläche geklettert und baumelt mit den Beinen, Bruce dreht sich zu ihm um. „Der Junge braucht Abendessen.“ Und er selbst muss los zu seinem zweiten Job.

Über 70 Prozent der Fläche Amerikas gelten als „ländlich“, doch nur etwa 15 Prozent der Amerikaner leben außerhalb von Städten und Vorstädten, Tendenz sinkend. Ländliche Amerikaner wählen überwiegend republikanisch und bei den republikanischen Vorwahlen häufig die extremeren Kandidaten. Das amerikanische Hinterland ist im Vergleich zu Durchschnittsamerika weißer, ärmer und schlechter ausgebildet, und es war stärker von der Rezession betroffen.

Im „Black Diamond“ in Frackville ist das Licht schummrig und die Portionen sind groß. Bruce übernimmt die Nachtschicht, seine Freundin arbeitet tagsüber. An vielen Tagen treffen sie sich nur zum Abendessen. Jetzt bestellen sie frittierte Fleischrollen und Pommes für Matt. Bob, ein bulliger Typ mit grauem Vollbart und tätowierten Armen, gesellt sich dazu und zeigt dem Jungen Zaubertricks. Chief Kessler, erzählt er, habe zuerst für die Polizei in der Nachbargemeinde Butler gearbeitet. Da sei er rausgeflogen. Zuletzt, vor einem Jahr oder so, habe er Ärger wegen einer Kneipenschlägerei gehabt.

Der Polizeichef von Butler wird später am Telefon bestätigen, das sich der Chief nach wenigen Monaten wieder von seiner Einheit „getrennt“ habe, über die Gründe könne er nichts sagen, Personalangelegenheit. Gefeuert worden sei er aber nicht.

Die Sache mit der Kneipenschlägerei ist von der Schuylkill County Police untersucht worden. Trooper David Beohm nimmt den Telefonhörer ab und liest den Bericht vor. 2011 sei es zu einer „Rangelei“ im Pub in der Second Street in Girardville gekommen, in deren Verlauf die Dienstpistole von Chief Mark Kessler ausgelöst wurde und ihn selbst an der Hand verletzt habe. Sonst sei niemand zu Schaden gekommen. Da der genaue Hergang des Geschehens nicht geklärt werden konnte, wurde keine Anklage erhoben.

Bob kichert bei der Geschichte. „Dabei hat der Kerl hinter meinem Haus immer so eifrig Schießen geübt. Was für ein Geballer.“ Mehr ist dazu offenbar nicht zu sagen, Bob stemmt sich von seinem Barhocker hoch. Dabei rutscht ein Messer aus seiner Hosentasche und landet mit lautem Klong auf dem Holzboden. „Ich stehe halt eher auf die Dinger hier“, sagt Bob entschuldigend und steckt die Waffe in die Tasche seines Kapuzenpullovers.

Als er Richtung Toilette verschwunden ist, sagt Bruce: „Willkommen in Backcountry America.“

Erschienen auf der Reportage-Seite.

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