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Panorama: "Wann wird der Schrecken aufhören?" - ein Bericht aus dem Katastrophengebiet

Geschirr und Gläser klirren laut, als die Leute in dem Freiluft-Café im Istanbuler Stadtteil Sisli in Panik aufspringen und auf die Straße rennen. Gerade, um 14.

Geschirr und Gläser klirren laut, als die Leute in dem Freiluft-Café im Istanbuler Stadtteil Sisli in Panik aufspringen und auf die Straße rennen. Gerade, um 14.55 Uhr, hat wieder die Erde gebebt, und der Schreck ist allen in die Glieder gefahren. Das Lokal liegt zwischen zwei mehrstöckigen Bürohäusern, die bei dem Erdstoß der Stärke 5,8 bedrohlich schwankten. "Und wir sitzen genau dazwischen", sagt eine alte Dame, die trotzdem an ihrem Tisch sitzen bleibt.

Während viele Istanbuler bei diesem Beben - fast genau vier Wochen nach dem verheerenden Erdstoß vom 17. August - weitgehend mit dem Schrecken davon kommen, bringt das bisher schwerste Nachbeben in der bereits schwer zerstörten Region um die Industriestadt Izmit am Marmara-Meer wieder Tod und Verwüstung. In Städten wie Gölcük und Yalova stürzen Gebäude zusammen, die schon bei dem schweren Beben beschädigt wurden. Unter einem siebenstöckigen Gebäude werden noch viele Menschen vermutet.

Das neue Beben versetzt die Menschen in der Türkei und in Griechenland erneut in Angst. "Wann wird der Schrecken aufhören?" Diese Frage stellen sich viele Bewohner der Bebengebiete, die nicht zur Ruhe kommen wollen. Hunderte Nachbeben haben in den letzten Tagen Griechenland und die Türkei erschüttert.

Nach dem gestrigen Beben werden in einem Haus Baufachleute verschüttet, die das Gebäude auf Schäden untersuchen sollten. Auf den Straßen wird die Angst der Menschen viel deutlicher sichtbar als bei dem Beben vom August, das sich nachts ereignete und die meisten Überlebenden in den ersten Tagen unter Schock setzte. Jetzt aber rennen Menschen ziellos durch die Straßen, einige die Hände zum Gebet erhoben, andere unablässig in ihr Handy redend. Ein Junge sitzt mit seinen beiden Schwestern im Arm auf einer Verkehrsinsel, als sei es dort sicherer als anderswo. Bekannte, die sich während der grauenvollen Sekunden des Bebens aus den Augen verloren haben, fallen sich weinend in die Arme. Passanten ziehen wildfremde Menschen von den Häuserwänden weg, vor denen sie stehen geblieben sind. Vielerorts bricht der Verkehr zusammen, weil sich die Menschen auf den Straßen versammeln und sich nicht mehr in ihre Häuser zurücktrauen. Jene, die zurück gehen, um ihre sieben Sachen zu holen, werden von Mitbürgern zurückgeholt. Einige fassen sich nach der Schrecksekunde erstaunlich schnell und kümmern sich um ihre Mitmenschen. Polizisten erklimmen einen Schutthügel, der bis vor wenigen Minuten noch ein Haus war, um nach Überlebenden zu fahnden. Andere bringen Verletzte ins staatliche Krankenhaus von Izmit, das wie in den ersten Stunden nach dem großen Beben vom August auch jetzt wieder aus allen Nähten platzt und nicht alle Patienten in Krankenzimmern unterbringen kann. Die private Lebensrettungsgesellschaft AAKUT, die sich inzwischen auch in Athen schon Verdienste erwarb, ist sofort wieder vor Ort im Einsatz. In den Straßen der Städte im Erdbebengebiet, die in den vergangenen Wochen mühsam von Schutt geräumt worden sind, sieht es wieder aus wie nach einem Bombenangriff.

Trümmer eingestürzter Häuser, Betonteile, verbogene Stahlträger bestimmen das Bild. Die Tatsache, dass ausgerechnet am ersten Schultag in der Türkei die Erde erneut bebt, verstärkt die Panik noch. Viele Schulgebäude werden sofort geräumt, Mädchen und Jungen rennen weinend auf die Straße und ihren besorgten Eltern entgegen. Zum Glück war gerade Mittagspause, als das Beben kam. Eltern, Lehrer und Schüler im ganzen Land hatten sich dagegen gewehrt, dass die Schulen auch in den Erdbebengebieten planmäßig mit dem Rest des Landes wieder öffnen. Doch nicht überall ließen sich die Behörden umstimmen; in Yalova etwa ist zur Erdebenzeit gerade erster Schultag. Nun ordnet Ministerpräsident Ecevit aber die sofortige Schließung aller Schulen im gesamten Gebieten an.

Und anders als beim letzten großen Beben, als die Behörden Tage brauchten, um Hilfsaktionen auf die Beine zu stellen, wird diesmal sofort ein Staatsminister per Hubschrauber in die Unglücksregion geschickt. Nur langsam wird das Ausmaß der Schäden klar, denn wie schon beim Beben vom August brechen vielerorts die Telefonverbindungen zusammen. Wieder dauert es Stunden, bis aus den schwer getroffenen Regionen Meldungen vorliegen. An der Istanbuler Wertpapier-Börse wird der Handel ausgesetzt - auch die Börsenhändler sind durch das Beben in Panik geraten.

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