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Panorama: Warum erst jetzt?

Am 1. März kommt der belgische Kinderschänder und Mörder Marc Dutroux vor Gericht

Am 1. März beginnt im südbelgischen Arlon der Prozess gegen Marc Dutroux – siebeneinhalb Jahre, nachdem er festgenommen worden war, weil er sechs Mädchen entführt und vier von ihnen ermordet haben soll. Drei Komplizen sind ebenfalls angeklagt. Zusätzlich wird Dutroux auch noch der Prozess wegen Mordes an seinem Komplizen Bernard Weinstein gemacht. Das Verfahren vor einem Schwurgericht wird eine gigantische Veranstaltung werden – über tausend Medienvertreter werden erwartet und nach Ankündigung des Justizministeriums soll der Prozess live im Fernsehen übertragen werden. Die Affäre Dutroux steht in und außerhalb Belgiens als Beispiel für eine fast unglaubliche Serie von Justizpannen und als Exempel für das Böse schlechthin. Denn der Angeklagte zeigt keinerlei Reue und die Taten, die ihm vorgeworfen werden, stellen jeden TV-Horrorfilm in den Schatten. Zusammen mit seinen Komplizen soll er Anfang und Mitte der neunziger Jahre systematisch junge Mädchen entführt, monatelang gefangengehalten und zusammen mit anderen sexuell mißbraucht und ermordet haben.

Zwei der Opfer starben in seinem Keller an Unterernährung. Nach seiner Verhaftung gelang es Dutroux, für einige Stunden aus der U-Haft zu entkommen. Die Affäre ließ das Vertrauen der Belgier in die Behörden auf einen Tiefpunkt sinken. Sie löste eine beispiellose gesellschaftliche Krise aus. „Weiße Märsche" mit hunderttausenden von Bürgern führten zu einer landesweiten Protestbewegung. Es kam zu Rücktritten von Ministern, zu einer Justiz- und Polizeireform.

Verschwörungstheorien

Warum, so stellt sich die Frage, dauert es so viele Jahre, bis die Justiz es schafft, Dutroux den Prozess zu machen? Und warum hat sie es jetzt geschafft?

Ein kleines Indiz: So spekulierten letzte Woche Medien und Experten über die Gefahr, die von einer Zivilklage gegen Dutroux’ Mitangeklagten Michel Nihoul für den eigentlichen Dutroux-Prozess ausgeht: Muss dieser nicht unterbrochen werden, wenn Nihoul vor einem Brüsseler Gericht erscheinen muss? In aller Eile ließ Justizministerin Laurette Onkelinx in den letzten Wochen auch eine Vorschrift der Strafprozessordnung ändern, nach der auch Aussenstehende die Unparteilichkeit von Schöffen von der höheren Instanz überprüfen lassen können. Ein Querulant aus Lüttich hatte den Paragraphen benutzt, um einen aufsehenerregenden Mordprozess in der Stadt zu verzögern.

Belgiens Strafprozessrecht verlangt umfangreiche Ermittlungen und ermöglicht allen Prozessparteien Einsprüche gegen fast jede Maßnahme – besonders bei Verhandlungen vor einer Jury. Soziologen weisen gerne darauf hin, dass gerade das Mißtrauen der Belgier in ihre Justiz Richter und Ermittler zu unnötig umfangreichen Anstrengungen zwingt: Mit dem Versuch, auch noch die letzte Unklarheit auszuleuchten, wollen sie das Vertrauen der Öffentlichkeit zurückgewinnen – und erreichen oft nur Frustration über die dadurch verursachte Verzögerung.

Im Fall Dutroux wurden 5000 Haare monatelang auf ihre DNA untersucht – das Ergebnis erwies sich für den Prozess dann als irrelevant. Dass der Prozess gegen Dutroux nun endlich beginnen kann, liegt schlicht daran, dass alle Parteien sämtliche Rechtsmittel ausgeschöpft haben. Solche Zeitverzögerungen bei Prozessen sind in Belgien nicht ungewöhnlich. Das Urteil beim Mord des sozialistischen Politikers André Cools erging erst jetzt – 13 Jahre nach der Tat.

Experten und Beobachter erwarten, dass der Dutroux-Prozess mehrere Monate dauern und das Land noch einmal aufwühlen wird. In Wallonien, von wo die Angeklagten kommen und wo die Verbrechen auch begangen wurden, diskutieren Erziehungspolitiker schon seit Monaten über begleitende Unterrichtseinheiten, um die Kinder auf den Prozess und seine Medialisierung vorzubereiten. Er wäre auch eine Chance für Belgien, einen Schlussstrich unter eine fast unendliche Affäre zu ziehen – würden da nicht so viele Verschwörungstheorien im Land kursieren, die das unmöglich machen.

Die setzten schon ein, als Dutroux, nach mehreren enormen Ermittlungspannen, schließlich im Sommer 1996 verhaftet wurde. Weil er sich auf einem Straßenfest von den Eltern eines entführten Mädchens einen Teller Spaghetti hatte spendieren lassen, entzog der Kassationsgerichtshof dem damaligen Untersuchungsrichter wegen Parteilichkeit den Fall und teilte ihn einem Ermittler zu, der dem Verfahren eine andere Richtung gab. Der Konflikt zwischen Ermittlungsrichter Jacques Langlois, der sich auf vier oder fünf Täter konzentrieren und den Prozess führbar halten und Staatsanwalt Michel Bourlet, der ein umfangreiches Komplott aufdecken wollte, wurde nie gelöst, vergiftete die Atmosphäre und zögerte den Prozessbeginn immer weiter hinaus. Langlois konzentrierte sich auf Dutroux und seine unmittelbare Umgebung, Bourlet versuchte ihn ständig zu zwingen, Verzweigungen der Affäre und neue Spuren zu verfolgen. Statt zusammenzuarbeiten, bekämpften sich Staatsanwalt und Ermittlungsrichter und trugen ihre Konflikte über die Medien aus.

Beziehungen in höchste Kreise

Wichtigster Streitpunkt: Die Rolle des zwielichten, vorbestraften Brüsseler Geschäftsmanns Michel Nihoul, einen guten Bekannten Dutroux’, der des Drogenhandels verdächtigt wird, als Polizeispitzel tätig war, Sex-Orgien organisierte und Beziehungen in höchste politische Kreise unterhielt.

Nach belgischem Recht können Angehörige und Hinterbliebene der Opfer nicht nur beim Prozess, sondern auch während des Vorverfahrens als Nebenkläger auftreten, Akteneinsicht nehmen und gegen Einzelentscheidungen der Anklagebehörde Beschwerde einlegen. Die Folge für das Verfahren gegen Dutroux: Da den Nebenklägern daran lag, jedes Detail des Verschwindens ihrer Kinder lückenlos aufzuklären, ließen sie von ihren Anwälten fast gegen jeden Schritt der Voruntersuchung Beschwerde einlegen. Bis zuletzt kämpften einige Eltern dafür, die Zahl der Mitangeklagten auf bis zu 17 auszudehnen. Paradoxerweise lag diese Strategie ganz im Sinne des Angeklagten: Je größer das angebliche Komplott erscheint, desto kleiner wird dabei seine Rolle.

Anwälte geben hinter vorgehaltener Hand zu verstehen, dass immer wieder kolportierte Gerüchte, das Komplott gehe bis ins Königshaus, letztendlich auch Dutroux helfen. In Belgiens Justizapparat, der für politische Signale hochempfindlich ist, würde sich kein Beamter erdreisten, ein Verfahren zu führen, das womöglich bei dem nach der Verfassung ohnehin unantastbaren König enden könnte.

Klaus Bachmann[Brüssel]

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