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Istanbul, „da, wo es abgeht“. Für viele Arbeitssuchende und Vergnügungssüchtige ist die Metropole am Bosporus ein Sehnsuchtsort.

© REUTERS

Rückwanderung: Was heißt schon Heimat

Aufbruch in ein fremdes Land: Jahr für Jahr wandern mehr in Deutschland Geborene in die Türkei aus – Nevin Tuncer ist eine von ihnen.

Als Yasar Tuncer vor gut einem halben Jahrhundert sein Heimatdorf im Osten der Türkei verließ, suchte er Arbeit. Er fand sie in einer Zeche in Dortmund, seine Familie holte er später nach, seine Tochter Nevin wurde in Deutschland geboren. Fast 50 Jahre später ist Nevin den umgekehrten Weg gegangen. Auch sie suchte Arbeit, doch die besseren Perspektiven für sich sah sie nicht in Dortmund, sondern in Istanbul. Die Geschichte einer deutsch-türkischen Odyssee.

Nevin Tuncer nippt an ihrem Cappuccino und schaut sich um. Hier, im Istanbuler Szeneviertel Cihangir, wirkt die türkische Metropole nicht orientalisch, sondern eher wie Paris oder Berlin. Ein voll besetztes Straßencafé reiht sich ans andere, Hausfrauen mit Einkaufstüten und Flaneure bahnen sich einen Weg durch die Menge. Die Menschen genießen das schöne Wetter, die Atmosphäre ist weltstädtisch-entspannt. Tuncer wohnt und arbeitet um die Ecke, mitten im ‚coolen’ Istanbul. Und sie kann sich nicht vorstellen, jemals wieder dauerhaft in ihre Geburtsstadt zurückzukehren. Nach Dortmund, ins „Türkenviertel“, wie sie sagt.

„Ehrlich gesagt, sehe ich da nichts mehr“, sagt Tuncer. Sie meint Dortmund und den Rest der Bundesrepublik. Die 34-Jährige gehört zu den fast 40 000 Bundesbürgern, die jedes Jahr aus Deutschland in die Türkei ziehen. Die meisten sind türkischer Abstammung wie Tuncer, und viele haben wie sie das Gefühl, dass Deutschland sie nie voll akzeptierte. „Viele meiner türkischen Freunde in Dortmund sagen, sie würden auch gehen, wenn sie einen Job in Istanbul hätten“, erzählt Tuncer. „Sie sagen mir: ‚Du lebst in Istanbul, da, wo es abgeht.’“ Was man von Dortmund wohl nicht sagen könne. „Ich hätte nie gedacht, dass die Türkei eines Tages so attraktiv werden würde.“

Seit 2006 – dem Jahr, in dem auch Nevin aus Dortmund nach Istanbul ging – ziehen mehr Menschen aus Deutschland in die Türkei als umgekehrt. Im Jahr 2009 kamen laut Migrationsbericht des Bundesinnenministeriums 29 544 Türken nach Deutschland; doch im selben Jahr zogen 39 615 Deutsche in die Türkei – unter dem Strich ein Fortzug von mehr als 10 000 Menschen. Im Jahr 2002 lag der Netto-Zuzug aus der Türkei nach Deutschland noch bei 22 000 Menschen.

Vor 50 Jahren waren es einfache Arbeiter, die aus Anatolien nach Deutschland kamen. Istanbul war damals eine Stadt von anderthalb Millionen Einwohnern, es gab noch keine Brücken über den Bosporus, das in den 1950ern eröffnete Hilton-Hotel im Stadtteil Harbiye war der letzte Schrei in Sachen Modernität und westlichem Schick, und ausländische Besucher waren vergleichsweise rar. Heute leben zehnmal mehr Menschen in der Metropole, die Vorbereitungen zum Bau einer dritten Bosporus-Autobahnbrücke und eines dritten Flughafens laufen auf Hochtouren – und Istanbul ist zur Trend-Stadt geworden, die jedes Jahr sieben Millionen Besucher anzieht.

Und immer mehr immer mehr Deutsch-Türken, die dauerhaft hierbleiben wollen. Architekten, Ärzte, Werbefachleute und Rechtsanwälte ziehen aus der Bundesrepublik an den Bosporus, um ein neues Leben zu beginnen. Der türkischen Politik ist das recht. „Auch wir brauchen gut ausgebildete Fachkräfte“, sagte Staatspräsident Abdullah Gül vor wenigen Wochen während seines Staatsbesuches in Deutschland. „Leute aus allen möglichen Berufen können in die Türkei kommen und Arbeit finden.“

Es gibt viele Gründe dafür, dass sich junge Deutsch-Türken von der Heimat ihrer Eltern angezogen fühlen. Einer der wichtigsten ist die Zurückweisung, die sie in der Bundesrepublik verspüren. „In Deutschland hatte ich keine Perspektive“, sagt Nevin Tuncer. „Und Hartz IV wollte ich nicht.“ Ihre ältere Schwester war bereits vor ihr nach Istanbul gezogen, sie arbeitet als Anwältin. Also machte sich auch Nevin auf ins Land ihrer Eltern. „Ich hatte ja nichts zu verlieren.“

Nach einer OECD-Studie haben Nachkommen von Einwanderern in Deutschland und Österreich deutlich schlechtere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, selbst wenn sie dasselbe Bildungsniveau haben wie Kinder aus Familien, in denen mindestens ein Elternteil im Inland geboren ist. Fast jeder dritte Türke in der Bundesrepublik ist arbeitslos. Besonders gut gebildete Migranten der zweiten oder dritten Generation fühlen sich in Deutschland diskriminiert, wie der türkische Migrationsforscher Rauf Ceylan kürzlich der Zeitung „Yeni Safak“ sagte. „Außerdem erstrahlt der Stern der Türkei mit ihren demokratischen und wirtschaftlichen Fortschritten in der ganzen Welt.“

Lesen Sie auf Seite zwei mehr über die Gefühle der Deutsch-Türken zu den beiden Ländern.

In Deutschland hatte ich keine Perspektive, sagt Nevin Tuncer.
In Deutschland hatte ich keine Perspektive, sagt Nevin Tuncer.

© privat

Viele in Europa hätten wohl immer noch die Vorstellung von der Türkei als Land, in dem die Leute mit Pferdewagen auf Feldwegen statt in Autos auf modernen Straßen unterwegs seien, sagte Präsident Gül kürzlich. Die Furcht der Deutschen vor einem Ansturm verarmter anatolischer Massen, die den deutschen Arbeitsmarkt überschwemmen könnten, sobald die Visumspflicht gelockert oder gar ganz abgeschafft würde, ist aus türkischer Sicht längst überholt. „Glauben Sie mir, so etwas wird es nicht geben“, sagte Gül während seines Deutschlandbesuches. Zumal die Realität für Menschen wie Nevin Tuncer genau umgekehrt aussieht.

In Dortmund fand sie keinen dauerhaften Job, sie war zwischenzeitlich arbeitslos. In Istanbul hatte sie mehr Glück – und landete nach Vermittlung der deutschen Handelskammer ausgerechnet bei einer deutschen Institution: Tuncer arbeitet in der Bibliothek des angesehenen Orient-Institutes. Von den türkischen Behörden erhielt sie einen Sonderausweis, der sie trotz ihres deutschen Passes in vielen Alltagsdingen den Türken gleichstellt.

Tuncer ist glücklich am Bosporus. Selbst die Türken in der Türkei sind anders als die in Deutschland, findet sie. „Hier sind die Leute offener, alles ist ganz locker.“ Als Alevitin, Anhängerin einer besonders liberalen Spielart des Islam, hatte sie in Dortmund vornehmlich Kontakt zu anderen Aleviten, aber weniger zu Menschen anderer Glaubensrichtungen. In Istanbul ist das anders. „Hier ist alles so richtig gemischt.“

Vor allem gibt es Jobs für Menschen wie sie, die Deutsch und Türkisch sprechen und sich in beiden Kulturen auskennen. Große deutsche Unternehmen wie Lufthansa betreiben Callcenter in Istanbul. Die insgesamt rund 4500 deutschen Firmen in der Türkei suchen ebenfalls immer wieder zweisprachige Mitarbeiter, ganz abgesehen von den türkischen Unternehmen im Wirtschaftsboom-Land Türkei. Fast neun Prozent betrug das Wirtschaftswachstum im vergangenen Jahr, im ersten Quartal dieses Jahres waren es elf Prozent, im zweiten Quartal immer noch 8,8 Prozent. Davon können Europa und Deutschland nur träumen.

Arbeit und Karrieren für Deutsch-Türken gibt es also schon am Bosporus – aber gibt es auch eine Heimat?

Nevin Tuncer ist Mitglied im so genannten Rückkehrer-Stammtisch, bei dem sich regelmäßig Deutsch-Türken treffen, die aus Deutschland nach Istanbul gekommen sind. Vor ein paar Wochen kam der Stammtisch in Istanbul mit Maria Böhmer zusammen, der Integrationsbeauftragten der Bundesregierung.

Der Stammtisch wurde 2005 gegründet, zu einer Zeit, als Nevin Tuncer und andere Türken aus Deutschland an den Bosporus zogen und sich in der für sie fremden Heimat ihrer Eltern etwas allein fühlten. Inzwischen hat die Gruppe mehrere hundert Mitglieder. Beim Stammtisch können sie Erfahrungen austauschen über das Leben in der Türkei, darüber, wo denn jetzt eigentlich die Heimat ist. „Wir Deutschländer lieben beide Länder“, stand auf einer von den Teilnehmern unterschriebenen Karte zum Andenken an das Treffen mit Böhmer. „Deutschländer“ ist die Übersetzung von „Almancilar“, wie die Türken in Deutschland von ihren Landsleuten in der Türkei genannt werden. Beide Begriffe klingen merkwürdig.

Dasselbe gilt für „Rückkehrer:“ Viele Stammtischler sind wie Nevin Tuncer in Deutschland geboren, sind also streng genommen keine „Rückkehrer“ in die Türkei. Sie kehren nicht zurück, sie brechen auf in ein Land, das viele von ihnen vor dem Umzug nur aus den Ferien kannten.

Diese Art von deutsch-türkischen Verwicklungen war nicht absehbar, als Nevins Vater Yasar im Jahr 1962, also kurz nach Beginn der türkischen Migrationswelle und lange vor Nevins Geburt, aus einem Dorf in der ostanatolischen Provinz Erzincan nach Dortmund aufbrach, um dort in einer Zeche zu arbeiten. Die Familie ließ er in Erzincan, drei Jahre später kehrte er heim, um sich mit seinen Ersparnissen in der Heimat eine neue Existenz aufzubauen. Ganz so, wie sich die ersten „Gastarbeiter“ das vorgestellt hatten.

Doch der Plan von Yasar Tuncer scheiterte, und so ging er Ende der 1960er Jahre ein zweites Mal nach Dortmund. Diesmal holte er einen Teil der Familie nach – seine Frau sowie zwei seiner damals fünf Kinder gingen 1975 in die Bundesrepublik. Nevin wurde ein Jahr später in Dortmund geboren und ging dort zur Schule. So ganz fühlte sie sich nie zur Gesellschaft ihres Geburtslandes zugehörig. Die Sprache der Familie war Türkisch, nur die Kinder sprachen untereinander Deutsch. „Ich habe 29 Jahre dort verbracht“, sagt sie. „Aber ich hatte das Gefühl, in Deutschland nicht so richtig anerkannt zu werden.“ In der Freizeit „trafen die Türken andere Türken, und die Deutschen gingen in die Disco“.

So spannend das Abenteuer der modernen Türkei für die jungen Deutsch-Türken auch ist: Viele können sich nicht ganz lösen von ihrem Geburtsland. Auch Nevin Tuncer reist hin und wieder zurück nach Dortmund. „So ganz kann ich mich noch nicht von Deutschland trennen.“

Nicht nur sie, ihre ganze Familie ist zwischen Deutschland und der Türkei hin- und hergerissen. Ihr Vater starb vor zehn Jahren in Deutschland, wurde aber in Erzincan begraben. Er wollte es so. Nevins Mutter verbringt die eine Hälfte des Jahres in Dortmund und die andere in der Türkei. „Ich habe das Gefühl, irgendwie dazwischen zu sein“, sagt Tuncer.

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