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Panorama: Wegsperren – und zwar für immer?

Vom Umgang mit Sexualverbrechern nach der Haft

Wer Rechtsgeschichte schreibt, hat es nicht leicht. Im Innenministerium von Sachsen-Anhalt in Magdeburg klingeln die Telefone derzeit ununterbrochen. Jeden Tag fragen Journalisten nach Einzelheiten, aufgebrachte Bürger stoßen Flüche gegen die Justiz aus. Es geht um eine Entscheidung, die die Behörde vor wenigen Wochen getroffen hat. Eine Entscheidung, die es so in Deutschland noch nie gegeben hat.

Frank O. ist freigelassen worden, er ist zurück in Quedlinburg, nach 22 Jahren im Gefängnis. 1983 wurde er wegen Mordes an einer Frau verurteilt. 1992, gerade auf Bewährung draußen, stach er erneut auf eine Frau ein: versuchter Totschlag. O. musste wieder für zehn Jahre hinter Gitter. Der Staat wollte ihn danach in Sicherungsverwahrung nehmen. O. klagte dagegen, bekam höchstrichterlich Recht und ist nun frei. Seitdem wird er rund um die Uhr von Polizeibeamten in Zivil beobachtet. Denn von Frank O. geht nach wie vor eine „mittelschwere Gefahr“ aus, wie ein Gutachter urteilte.

Wie soll man mit gefährlichen Gewalttätern umgehen, die ihre Strafe verbüßt haben? Diese Frage stellt sich auch in Brandenburg. Dort steht ein Sexualstraftäter vor der Entlassung. Auch er gilt noch als gefährlich. Auch er muss nicht in Sicherungsverwahrung. Diese „Maßregel der Besserung und Sicherung“ ist seit jeher unter Juristen umstritten. Denn sie erlaubt es dem Staat, einen Täter, der seine Strafe und damit seine Schuld verbüßt hat, vorsorglich in Haft zu behalten – wenn Gutachter alle zwei Jahre feststellen, dass von ihm noch eine „besondere Gefahr“ ausgeht. Die Resozialisierung des Täters tritt dabei hinter das Bedürfnis der Allgemeinheit nach Sicherheit zurück. „Sicherungsverwahrung ist eine Schande“, schrieb Kurt Tucholsky 1928 in der „Weltbühne“. „Sie darf in keiner Form Gesetz werden – in keiner.“

Sie ist es dennoch geworden. Obwohl die Zahl der Gewaltverbrechen rückläufig ist, saßen 2005 in deutschen Gefängnissen 350 Menschen in Sicherungsverwahrung. Die Tendenz ist steigend. Ursprünglich musste das Gericht die Sicherungsverwahrung bereits im Urteil verhängen. Seit 2002 kann es sich die Maßnahme vorbehalten, wenn die Prognose unklar ist. Und seit 2004 ist auch eine nachträgliche Sicherungsverwahrung möglich.

Das Bundesverfassungsgericht hat die nachträgliche Sicherungsverwahrung gebilligt, ihr aber Grenzen gesetzt. Denn sie soll nicht zum Regelfall werden. Vom Täter müsse eine „gegenwärtige erhebliche Gefährlichkeit für die Allgemeinheit“ ausgehen und es müssten neue Erkenntnisse vorliegen, die zum Zeitpunkt des Urteils noch nicht absehbar waren. Bei Frank O. fehlte es jedoch ebenso wie im Brandenburger Fall an neuen Erkenntnissen. Denn dass die Täter gefährlich sind, wussten die Gerichte schon vorher. Das Problem: In den neuen Bundesländern gab es die Sicherungsverwahrung bis 1995 nicht, die Gerichte konnten sie also gar nicht anordnen. Zumindest hier müsse eine nachträgliche Verhängung auch ohne neue Erkenntnisse möglich sein, schrieb der Brandenburger Generalstaatsanwalt Erardo Rautenberg vergangene Woche im Tagesspiegel. Er fordert dringend eine Gesetzesänderung, um die Lücke zu schließen.

Die Justiz steht bei der Frage nach der Sicherungsverwahrung vor einem grundlegenden Problem. Einerseits geht es um das Interesse der Gesellschaft nach Sicherheit vor mehrfachen Gewalttätern. Auf der anderen Seite steht das Recht eines Verurteilten, nach verbüßter Haft ein neues Leben beginnen zu dürfen. Ob ein neues Gesetz oder das ständige Verfolgen des Mannes durch Zivilpolizisten dieses Problem löst, ist fraglich.

Strafrechtler warnen davor, die Sicherungsverwahrung zum Allheilmittel auszubauen. „Sie sollte die Ultima Ratio bleiben“, sagt Klaus Marxen, Richter am Kammergericht Berlin und Professor für Strafrecht an der Humboldt-Universität. „Es muss immer geprüft werden, ob es nicht weniger einschneidende Eingriffe gibt.“ So sehe das Gesetz bereits jetzt die Maßnahme „Führungsaufsicht“ vor. Auch der Tübinger Strafrechtler Kristian Kühl, grundsätzlich kein Gegner der Sicherungsverwahrung, hält von weiteren Verschärfungen nichts. „Für einen derart massiven Freiheitsentzug wäre die Tatsachenbasis dann sehr gering“, sagt Kühl. Die Maßnahme der Behörden in Sachsen-Anhalt hält er zumindest für ungewöhnlich. „Kurzfristig ist das mit der Einwilligung des Betroffenen denkbar, dauerhaft aber nicht.“

Der Staat steht vor einem Dilemma. Wie viele Menschen soll er für immer wegsperren, um eine Straftat zu verhindern? Wie viele sitzen in Sicherungsverwahrung, obwohl sie auch in Freiheit ein unauffälliges Leben geführt hätten? Niemand wird es erfahren, denn solche Fälle tauchen in keiner Statistik auf. Nachdem 1966 der US-Bundesstaat New York aufgrund einer Gerichtsentscheidung zahlreiche als gefährlich eingestufte Kriminelle hatte freilassen müssen, stellte sich heraus, dass lediglich zwei Prozent von ihnen wieder wegen Gewaltdelikten auffällig wurden. Dennoch bleibt jeder Rückfall einer zu viel. In den USA gibt es schon seit längerer Zeit eine öffentliche Datenbank mit Informationen über Sexualstraftäter. Dort kann sich jeder darüber informieren, welche entlassenen Täter wo leben. Die Betroffenen stehen mit Bild und Lebenslauf im Internet. Auch in Deutschland fordern einzelne Politiker derartige Datenbanken zum Schutz der Bürger. Juristen sind sich jedoch darüber einig, dass so etwas mit dem Grundgesetz nicht vereinbar wäre. Denn die Menschenwürde gilt auch für Straftäter. „Ich bin sehr besorgt, dass wir auch in Deutschland irgendwann Maßnahmen bekommen werden, die bisher eindeutig verfassungswidrig sind“, sagt Strafrechtler Klaus Marxen.

In den USA ist es schon zu Fällen von Lynchjustiz gekommen. Eine Gefahr, die das Innenministerium in Sachsen-Anhalt auch bei Frank O. sieht. „Die Bewachung dient auch seinem Schutz“, sagt eine Mitarbeiterin des Ministeriums in Magdeburg. „Wer sagt uns denn, dass ihm nicht irgendwann jemand den Kopf einschlägt, wenn er vor die Tür tritt?“

Steffen Hudemann

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