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Panorama: Wenn man den Nachbarn nicht erkennt

Eine Studie zeigt, dass die bisher kaum erforschte Gesichtsblindheit häufiger vorkommt als angenommen

Es ist ein verbreitetes Phänomen: Das Gesicht kenne ich doch? Aber wer war das nochmal? Noch so angestrengtes Nachdenken hat keinen Zweck: Der Name will einem nicht einfallen. Anderen geht es genau umgekehrt: Sie können Gesichter nicht wiedererkennen. Mehr Menschen als bislang vermutet sind von der angeborenen Wahrnehmungsschwäche, der Prosopagnosie, betroffen. Man spricht auch von Gesichtsblindheit. Dies belegt eine Studie der Universität Münster. Demnach leiden rund zwei Prozent der Bevölkerung an dieser Krankheit. Sie können Gesichter zwar sehen, sich danach an diese nicht mehr erinnern.

„Im Beruf und im Privatleben ist das weniger ein Problem“, sagt Thomas Grüter, Mitglied der Forschungsgruppe in Münster. Dort trainieren sich Prosopagnostiker Methoden an, wie sie ihr Problem umgehen können. Anstatt Auge, Nase oder Mund werden Stimme, Bewegung, Statur und Figur einer Person zu wichtigen Erkennungsmerkmalen. „Jeder entwickelt im Lauf der Zeit seine Tricks“, erklärt Grüter. An öffentlichen Plätzen wie Bahnhöfen und Flughäfen oder gesellschaftlichen Treffen wie Geburtstagsfeiern, wo sich im wahrsten Sinne des Wortes viele unbekannte Gesichter aufhalten, wird die Situation schwieriger. Dort können Menschen, die mit dieser Störung leben, auf ihre eingeübten Hilfsmittel nicht zurückgreifen. Teilweise mit erheblichen Folgen: Ein Handwerker, der seine Kunden auf offener Straße nicht erkennt und grüßt, wird schnell als unfreundlich abgestempelt, erklärt Grüter. Das schade dem Ansehen. Er weiß, wovon er spricht. Er ist selbst Prosopagnostiker. Freunde, Bekannte und Familie wussten aber irgendwann Bescheid, wenn das „Hallo“ nicht erwidert wurde.

Das kennt auch Anette Lienert aus Hannover zur Genüge. Im Lauf der letzten 25 Jahre hat sie gelernt, mit der Schwäche umzugehen. Bei Geschäftsterminen wählt sie die Flucht nach vorn und weiht ihre Mitmenschen vorsorglich ein. Denn peinliche Missverständnisse will sie vermeiden. Was sie stört, ist die soziale Einschränkung: „Manche Leute fühlen sich gekränkt, wenn man sie nicht wahrnimmt.“ Dass sie dann vielleicht arrogant wirkt, kann die Historikerin nicht ändern.

Der Fall Thomas Grüter weckte bei seiner Frau Martina Grüter das Forschungsinteresse. Zwei Jahre lang untersuchte sie die bislang kaum erforschte Krankheit. Mit erstaunlichen Erkenntnissen: Bis zum Jahr 2000 waren weltweit nur rund ein Dutzend Fälle bekannt. Die Studie ihrer Forschungsgruppe am Institut für Humanmedizin an der Universität Münster belegt nun statistisch, dass dieses Problem weitaus verbreiteter ist als vermutet. Mehrere Hunderttausend Deutsche leiden, ohne es zu ahnen, an dieser Schwäche. In einem Interviewverfahren der Forschungsgruppe von Martina Grüter kristallisierten sich Menschen mit einem Wahrnehmungsdefizit heraus. Von rund 800 Personen waren 14 betroffen.

Vor allem für Kinder ist es schwer mit dem Defekt zu leben. „Bei Kindern äußern sich die Probleme schon sehr früh“, weiß Thomas Grüter. Auf dem Spielplatz trauen sie sich nicht von ihrer Mutter weg, weil sie Angst haben, sie nicht wiederzufinden. Auch in der Schule lauern Probleme: Prosopagnostische Kinder können längere Zeit benötigen, sich in die Klassengemeinschaft zu integrieren oder Freunde zu finden. Wenn Strukturen schon gebildet sind, kann es zu sozialer Ausgrenzung kommen.

Ulla Meckler

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