zum Hauptinhalt
Die Gräber tun sich auf, gleich erwischt es Max...

© privat

Aberglaube oder Wunder?: Geisterstunde

Ist es gut, Kindern krasse Geistergeschichten zu erzählen, damit sie sich benehmen? Max, 18, findet diese Erziehungsmethode jedenfalls besser als hilfloses Argumentieren.

Ich liebe Rückblicke auf meine Kindheit: Eine attraktive blonde Frau, Ende Zwanzig, steht mit ihrem Sohn an der Ampel. Der Kleine, im Kindergartenalter, trägt eine blaue Latzhose. Die Mutter raunt verschwörerisch: „Und darum merke dir immer, Max, falls du es jemals wagen solltest, die Hand gegen deine Mutter zu erheben, werden die Arme der Untoten aus den Friedhofsgräbern brechen und mit langen, spitzen Fingernägeln und verschimmelten Gelenken nach dir greifen, um dich zu nach unten zu ziehen. Denn wer seine Mutter schlägt, darf nicht auf Erden verweilen.“ Der Kleine schütteln energisch den Kopf, schaut sorgsam nach rechts und links und zieht seine Mutter über die Straße.

Noch heute kommt die Geschichte bei Freundinnen wahnsinnig gut an: Die mitleidigen „Waaaas, wie krass, du Armer“ geben mir das Gefühl, eine echte Psychoerziehung durchlebt zu haben. Aber wieso eigentlich? Gestern lief ich den Kudamm lang, als etwa zwei Meter entfernt von mir ein Vater sein Kind anbrüllte: „Fabian, wenn du noch einmal deine Schwester schlägst, dann drehe ich durch!“ Fabian schlug erneut zu. „Das darfst du nicht, verdammt noch mal“, ächzte der Mann hilflos. Ich schmunzelte und ging weiter.

Ist es nicht so, dass Kinder Geschichten lieben? Und Aberglaube basiert ja auf Erzählungen, denen eine bestimmte Moral oder schlichtweg Panikmache zugrunde liegt. Diese Geschichten regen aber die Kinder dazu an, nachzudenken und von selbst zu dem Schluss zu kommen, dass es beispielsweise keine gute Idee sein kann, seine Mutter zu schlagen. Die moderne Vernunftpädagogik, die vorsieht, dass Fabian von selbst die Unvernunft seiner Handlung erkennt, kommt mir viel zu erwachsen vor.

Ich jedenfalls würde mich niemals auf einer physischen Ebene mit meiner Mutter streiten, aus Angst, mich in Zukunft von Friedhöfen fernhalten zu müssen. Ich bin deswegen aber kein traumatisiertes Wrack. Wer seine Kinder erziehen will, sollte ihnen so viel Vernunft und Stärke zutrauen, dass sie mit Gruselgeschichten fertig werden. Fabians Schwester würde mir da nur zustimmen.

Noch heute achte ich darauf, niemals eine Grimmasse zu schneiden, wenn die Uhr zwölf schlägt. Mein Gesicht könnte für immer so verzerrt bleiben. Meinte meine Oma…       

Max Deibert

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false