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Platz da. Wer in der Hauptstadt studieren will, braucht einen sehr guten Notendurchschnitt.

© Anika Buessemeier/laif

Andrang an Berliner Unis: Nach dem Abi auf und davon

Berliner Schulabgänger haben schlechte Aussichten auf einen Studienplatz in ihrer Heimatstadt. Was tun, wenn es nicht klappt? Zwei Betroffene haben da so ihre Vorstellungen.

Als Selin im Mai dieses Jahres ihr Abschlusszeugnis in den Händen hielt, dachte sie, der Stress läge nun hinter ihr. An der Wald-Oberschule in Charlottenburg hatte sie ihr Abi gemacht. Die Prüfungen waren zu ihrer Zufriedenheit verlaufen, das wochenlange Lernen gehörte endlich der Vergangenheit an. Jetzt würde sie sich dem widmen können, worauf sie die letzten Jahre hingearbeitet hatte: ihrer Zukunft. Diese Zukunft malte sich Selin gedanklich in leuchtenden Farben aus. Bevor sie im Herbst mit ihrem Lehramtsstudium beginnen würde, wollte sie Zeit mit ihren Freunden verbringen, reisen, nebenbei jobben. Der Sommer würde der bisher beste werden, da war sie sicher.

Was Selin damals nicht ahnte:  dass der Stress nun erst anfangen würde. Denn für die von ihr gewünschte Fächerkombination Deutsch/Sport erhielt sie nur Absagen. Von der Humboldt-Uni, von der FU und auch von der Uni Potsdam. Ihr Notendurchschnitt von 2,5 reichte für die Zulassung nicht aus. Selin, deren Nachname lieber nicht in der Zeitung stehen soll, war enttäuscht. „Mit dem Abi, das ich gemacht hatte, war ich eigentlich zufrieden“, sagt die 19-Jährige, „dass es so schwer werden würde, damit meinen Wunschstudienplatz zu bekommen, war mir nicht bewusst, sonst hätte ich mich noch mehr angestrengt.“

So wie Selin erging es in diesem Jahr vielen Berliner Abiturienten, die zum Studium ihres Wunschfachs nicht zugelassen wurden. Weil die Zahl der Bewerbungen an den hauptstädtischen Hochschulen gestiegen ist, hat sich der Numerus clausus für viele Fächer deutlich verschärft. Grund dafür ist zum einen der Doppeljahrgang in Berlin und Brandenburg, der etwa ein Viertel mehr Abiturienten hervorbrachte. Zum anderen wird die Hauptstadt als Studienstandort immer attraktiver und die Hochschulen verzeichnen einen größeren Andrang. Bereits vor zwei Jahren hatte lediglich ein Drittel der Berliner Erstsemester das Abitur in Berlin gemacht, der Rest waren Zuzügler.

Arvid Peschel vom Allgemeinen Studierendenausschuss der FU kennt das Problem, er ist für die Hochschulberatung zuständig. In seiner Sprechstunde informiert er die Abgewiesenen über die ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. „Diesen Sommer war enorm viel los“, sagt Peschel. Besonders begehrt seien die Fächer Medizin, Psychologie und Politik, entsprechend hoch sei die Zahl der Absagen. Diejenigen, die nicht zugelassen wurden, erkundigten sich häufig nach Möglichkeiten zum Quereinstieg oder Einklagen des Studienplatzes. „Wobei wir Letzteres nicht unbedingt fördern wollen“, sagt Peschel. Warum? Weil nur klagen könne, wer über die entsprechenden finanziellen Mittel verfüge. Deshalb rät Peschel denjenigen, die vor ihm sitzen, sich an einer anderen Uni zu bewerben und dann den Platz zu tauschen, um doch noch in Berlin studieren zu können. Das Problem: Dafür muss sich erst mal jemand finden.

Von der Möglichkeit zum Tausch eines Studienplatzes wusste Selin nichts, vielleicht hätte sie sich sonst auch woanders beworben. Die Nachricht, dass es mit den gewünschten Fächern nicht klappen würde, erreichte sie ziemlich unvermittelt. „Zwischendurch bekam ich mehrere Mails, in denen mir mitgeteilt wurde, dass sich die Benachrichtigung verzögert“, erzählt sie. Anfangs habe sie sich dabei noch nichts gedacht, doch als Ende August die Absagen kamen, war das ein Schock. „Ich hatte mir keine Alternativen überlegt und bin fest davon ausgegangen, dass man mich an einer der drei Unis schon nehmen würde.“ Nachdem aber eine Ablehnung nach der nächsten eintraf, war klar, dass ein Plan B her musste.

Quote - ja oder nein?

Großer Andrang. Die Hörsäle an Berliner Unis sind voll - so wie hier in der HU.
Großer Andrang. Die Hörsäle an Berliner Unis sind voll - so wie hier in der HU.

© dapd

Über diesen Plan B macht sich Till bereits jetzt Gedanken. Derzeit bereitet sich der 19-Jährige auf sein Abitur an der Fritz-Karsen-Gesamtschule in Britz vor, seine Leistungskursfächer sind Geschichte und Biologie. Im März beginnen die Prüfungen, im Mai gibt es die Zeugnisse. Till, der seinen Nachnamen ebenfalls nicht in der Zeitung lesen will, peilt einen Notendurchschnitt zwischen 2,3 und 1,9 an. Dass er es damit nicht leicht haben wird, hier zum Studium zugelassen zu werden, ist ihm bewusst. „Es ist ja bekannt, dass viele Studienanfänger nach Berlin wollen. Deshalb ist absehbar, dass es immer schwerer wird, tatsächlich einen Studienplatz hier zu bekommen“, sagt er und klingt dabei nüchtern.

Am liebsten will Till Politik oder Wirtschaft in Berlin studieren. Die Gründe dafür sind schnell genannt: „Ich mag die Stadt. Meine Familie und Freunde sind hier.“ Zudem seien die Lebenshaltungskosten im Vergleich zu anderen deutschen Städten niedrig, das kulturelle Angebot groß und vor allem für junge Menschen reizvoll. „Natürlich kann ich es nachvollziehen, dass viele hier studieren wollen, vor allem wenn sie aus Kleinstädten oder vom Land kommen“, sagt Till. Ihm selbst gehe es ja nicht anders.

Dennoch schätzt er seine Chancen realistisch ein. Und genau aus diesem Grund informiert er sich bereits jetzt über Alternativen. Besonders angetan haben es ihm die Niederlande. An der Uni Leiden hat er sich über das Fach „International Studies“ informiert, ein interdisziplinärer Studiengang, der Kultur, Politik, Sprachen und Wirtschaft miteinander kombiniert. Was ihm daran besonders gefällt? „Die Uni ist sehr international ausgerichtet, da kommen Leute aus der ganzen Welt zusammen.“ Eine andere deutsche Stadt käme für ihn zum Studium hingegen nicht infrage. „Wenn ich Berlin schon verlassen muss, dann will ich gleich ins Ausland gehen.“

Erfahrung darin hat Till bereits. Nach der zehnten Klasse ging er für ein Jahr nach Chile. Die Zeit in Quillota, einer kleinen Stadt zwei Autostunden nördlich von Santiago, hat ihm gut gefallen. „Man lernt nicht nur ein neues Land, eine neue Kultur und neue Leute kennen, sondern auch sich selbst“, sagt Till rückblickend. Dadurch verändere sich die eigene Perspektive – eine Erfahrung, die jeder mal gemacht haben sollte, wie er findet.

Ins Ausland zu gehen, davor scheut sich Selin. Es ist einerseits eine Kostenfrage, Selin lebt mit ihrer jüngeren Schwester bei ihrem alleinerziehenden Vater. Zum anderen beschreibt sie sich als schüchtern, mitunter auch ängstlich. „Ins Ausland zu gehen, wäre ein großer Schritt. So ganz alleine in einer fremden Stadt, weit weg von Familie und Freunden – das wäre nichts für mich“, sagt sie. Deshalb informiert sie sich nun über Studienmöglichkeiten in Hamburg und Lübeck. „Aber insgeheim hoffe ich, dass ich doch in Berlin bleiben kann.“ Um die nächsten Monate zu überbrücken, hat sich Selin in die Kartei einer Hostessenagentur eintragen lassen. Mit Promotionjobs möchte sie etwas Geld verdienen, das sie fürs Studium zurücklegen will. Zudem bewirbt sie sich derzeit um Praktika, zum Beispiel an Kitas. Die könnten ihr später fürs Lehramtsstudium anerkannt werden. Auf jeden Fall will sie das Jahr nicht ungenutzt verstreichen lassen. „Ich merke ja selbst, dass man faul wird, wenn man keine Aufgabe hat.“

Eine Quote, die Landeskinder bei der Vergabe von Studienplätzen bevorzugt, lehnt Till ab. „Jeder sollte die gleiche Chance auf einen Studienplatz bekommen“, findet er. „Ich würde mich ja auch ärgern, wenn jemand mit schlechteren Leistungen nur aufgrund seiner Herkunft bevorzugt würde. Grundsätzlich ist es nur fair, einen Bewerber ausschließlich nach seinen Leistungen zu beurteilen.“ Selin sieht das anders, gibt aber zu, in diesem Punkt zwiespältig zu sein. „Einerseits verstehe ich, dass der Andrang groß ist – Berlin ist eine attraktive Stadt. Andererseits ärgert es mich, dass ich dadurch wahrscheinlich wegziehen und mich von Freunden und Familie verabschieden muss.“ Sie würde es begrüßen, wenn die Hochschulen etwa ein Drittel ihrer Plätze Berliner Abiturienten vorbehielten.

Auf ihrer Facebook-Seite hat Selin ein Bild von sich gepostet. Es zeigt sie ausgelassen mit einer Freundin. Die beiden sind schick zurechtgemacht, Selin trägt eine weinrote Paillettenmaske und blickt zuversichtlich in die Kamera. In der Ecke steht: „Live Life, Have Fun.“ An diesen Spruch versucht sie sich bei aller Ungewissheit trotzdem zu halten.

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