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Panorama: Berlin braucht Nachhilfe

Jeder vierte Schüler bekommt privaten Zusatzunterricht. Politiker beklagen Nachteile für ärmere Kinder

Montagnachmittag, die letzte Schulstunde ist längst vorbei. Doch statt zu Freunden oder zum Sport zu gehen, treffen sich Huan, Norwin und Marcel für zusätzlichen Unterricht. Anderthalb Stunden sitzen der Zehnt-, der Elft- und der Zwölftklässler an zwei quadratisch zusammengestellten Tischen in einem kleinen Raum des Nachhilfeinstituts „Studienkreis“ im ersten Stock der Wilmersdorfer Uhlandstraße. Sie sind nicht ganz freiwillig hier: Ihre Eltern wollen, dass sich die Französischnoten verbessern. Mit der 28-jährigen Philosophiestudentin und Muttersprachlerin Ségoléne Lepresle wiederholen sie die Grammatik, üben für Klausuren und machen Hausaufgaben. Manchmal übersetzen sie auch französische Popsongs.

Die drei Jugendlichen sind längst nicht die einzigen, die drei Nachmittage in der Woche für Zusatzunterricht opfern. Nach einer neuen Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung erhält jeder vierte Schüler bezahlte Nachhilfe. Spitzenreiter der gesamtdeutschen Studie sind dabei die westdeutschen und Westberliner Gymnasiasten, die mit 36 Prozent die größte Gruppe unter den Nachhilfeschülern darstellen. In den Ostbezirken und neuen Bundesländern wird durchschnittlich nur von 16 Prozent Nachhilfe beansprucht.

„Die Zahl der Anmeldungen steigt kontinuierlich“, sagt Nachhilfe-Filialleiterin Angelika Nethe. Ursachen hierfür gibt es viele. Kurz nach den Herbstferien stehen Klassenarbeiten und Tests an. Zu große Klassen, Unterrichtsausfall und zu wenige Lehrer erschweren das Lernen in der Schule. Manchen Kindern fehlt die Unterstützung zu Hause; andere haben nach einem Jahr im Ausland den Anschluss verloren. Auch das schlechte Abschneiden Deutschlands bei den Pisa-Studien hat den Nachhilfeschulen einen Boom beschert. Bildungsbewusste Eltern hätten seitdem Angst, dass ihre Kinder an den öffentlichen Schulen nicht genügend gefördert werden, um im internationalen Wettbewerb mitzuhalten, sagen Leiter von Nachhilfeinstituten.

Ähnlich groß wie die Nachfrage ist auch das Angebot an Nachhilfe. Abgesehen von Nachhilfelehrern, die über Kleinanzeigen zu finden sind, listen die gelben Seiten für Berlin 64 Nachhilfeinstitute auf. Die Jugendlichen arbeiten dort meistens in Kleingruppen. Außerdem gibt es Agenturen, die private Nachhilfelehrer vermitteln. Privatlehrer bieten den Vorteil, dass sie oft billiger sind als die Insitute und im Einzelunterricht viel gezielter auf die Probleme der Schüler eingehen können. In den Nachhilfeschulen sammeln viele Lehramtsstudenten Praxiserfahrungen. Auch Lehrer überbrücken häufig in privaten Bildungsinstituten die arbeitslose Zeit nach dem zweiten Staatsexamen.

Neben Ségoléne Lepresle, die später Philosophielehrerin an einem französischen Gymnasium werden möchte, unterrichtet auch der 43-jährige Lutz Moser vier Nachmittage in der Woche nebenberuflich beim „Studienkreis“. Mit seiner Hilfe verbesserte sich die Mathenote des 16-jährigen Huan von Note 5 auf 2. Die Hälfte der Nachhilfestunden wird bundesweit in Mathematik genommen. Fast ein Drittel der Schüler braucht Unterstützung in Englisch, gefolgt von Deutsch, Französisch, Physik, Latein und Chemie. Auch die klassische Geschlechterverteilung ist noch ungebrochen: Mädchen benötigen im Vergleich zu Jungen mehr Nachhilfe in Mathematik, die Jungen häufiger in Deutsch.

Doch das Prinzip Nachhilfe ist umstritten. Nach der DIW-Studie schicken Familien mit hohem Einkommen ihre Kinder doppelt so häufig zur Nachhilfe als ärmere Familien. „Wir können uns kein Schulsystem leisten, das auf bezahlte Nachhilfe angewiesen ist und damit die soziale Ungleichheit verstärkt“, sagt die noch amtierende Bundesbildungsministerin Edelgard Bulmahn (SPD). Sie plädiert stattdessen für den weiteren Ausbau der Ganztagsschulen, die mit einer individuellen Förderung bessere Chancen für alle Kinder böten.

Schulpsychologen weisen darauf hin, dass anhaltend schlechte Schulleistungen auch ein Zeichen dafür sein können, dass Kinder mit der Schulform überfordert sind, die die Eltern gewählt haben. Da helfe auch nicht weiter, auf Dauer Nachhilfe zu nehmen. Manchmal kann auch eine so genannte Teilleistungsstörung an den schlechten Noten schuld sein, Legasthenie oder Rechenschwäche zum Beispiel. Dann können meist nur Einrichtungen helfen, die darauf spezialisiert sind.

Alexander Schäfer

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