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Panorama: Der eilige Abend

Kalorien, Streit, Wahnsinnsgeschenke: Wie wir auch heute wieder die schönsten Stunden des Jahres mit der Familie verbringen

Weihnachten ist da. Das bringt die Familie zusammen und Probleme mit sich. Nur Mut: Anderen geht es genauso.

* * *

Geschenke

Es gibt keine richtige Zeit, um Weihnachtsgeschenke zu kaufen. Wer sie vor dem 1. Dezember besorgt, macht sich lächerlich, wer sie danach kauft, auch. Definitiv gibt es aber keinen schlechteren Zeitpunkt als – heute. In den Läden gibt es nur noch den Industriemüll zu kaufen, der produziert wurde, um die Maschinen auszulasten. Verschlimmert wird die Situation durch die Konkurrenz. Abgesehen von einer „Fisch-sucht-Fahrrad“-Party finden nie wieder so viele verzweifelte Menschen zusammen wie an Heiligabend im Kaufhaus. Gestresste Karrierefrauen, verkaterte Studenten und reuige Familienväter quälen sich an den Wühltischen vorbei. Ihr Blick verrät, dass sie alles tun würden, um das letzte sprechende Plüschpferd zu ergattern. Spätestens jetzt schwören wir uns: Nie wieder Geschenke kaufen an Heiligabend. Jedenfalls nicht in diesem Jahr.

Weihnachtsmann spielen

Ist der Stress am Vormittag überstanden, naht schon das nächste Ritual. Wieder einmal haben wir uns für ein paar Euro überreden lassen, das zerknitterte rote Kostüm anzuziehen und den zerrupften weißen Plastikbart um die Ohren zu binden. Und so sitzen wir schließlich am Nachmittag hübsch verkleidetet (mit einem großen Kissen unter dem Pullover) im 89er Corsa, rutschen über die vereisten Straßen und lassen uns an der roten Ampel von umherstreifenden Sprayer- Gangs auslachen. Und wofür das alles? Für einen winzigen Augenblick der Aufmerksamkeit: Die Tür öffnet sich, kleine Kinder fallen uns wie kleine Hunde um die Beine, wir machen „Hohoho“, hören ein Gedicht und dann das gleiche nochmal. Dann ist es vorbei mit dem Ruhm, denn nach dem Öffnen des Geschenksacks ist ein Weihnachtsmann für Kinder in etwa so interessant wie ein saftiges Steak für einen Vegetarier. Wir nehmen die Scheine und reißen uns das Kostüm vom Leib. Der Bart bleibt dran, der könnte bei Radarfallen noch nützlich sein. Ab nach Hause.

Kirche

In einer durchschnittlich religiösen Familie ist der Kirchgang an Heiligabend unausweichlich. Das Recht auf Selbstbestimmung zählt in diesem Moment rein gar nichts. Und der kluge Verweis darauf, dass Weihnachten eigentlich heidnischen Ursprungs ist, macht die Sache meist nur schlimmer. Aber so treffen wir wenigstens unsere frühere Kindergärtnerin vor der Kirche wieder, die sich vor allen Leuten lautstark daran erinnert, dass wir auch mit fünf noch nicht trocken waren. Ja richtig, das hatten wir ja fast verdrängt! Weniger erleuchtend ist das Krippenspiel: Warum werden die Hauptrollen stets mit Kindern besetzt, die dazu neigen, beim Sprechen die Zähne so fest aufeinander zu pressen, dass es praktisch unmöglich ist, den Handlungsablauf zu rekonstruieren? Die folgende Predigt ist ebenfalls nur für Eingeweihte zu verstehen. Vor allem die Finger-Problematik stellt für Ungeübte ein fast unüberwindliches Hindernis dar. Was tun, wenn sich alle erheben und ihre Hände zum Gebet falten? In die Tasche stecken wirkt irgendwie blasphemisch, auf der Bank des Vordermanns erregen die angekauten Nägelränder ungewolltes Aufsehen. Nikotinsüchtige machen hier eine besonders schlechte Figur. Kleiner Tipp: Handschuhe.

Mahlzeit

Die Königsdisziplin des Abends steht bevor. Seit Tagen hat Mutter in von der Bundeswehr angemieteten Töpfen Rotkohl und Klöße zubereitet – und dazu ein extra Gericht für Opa, weil er nunmal auf Wiener Würstchen mit Bautzner Senf („Mittelscharf!“) und Kartoffelsalat steht. Es wird schmecken, weil es jedes Jahr schmeckt und weil Mutti verdammt nochmal kochen kann. Weshalb also will sie im Drei-Minuten-Takt wissen, ob es schmeckt? Dann ist der entscheidende Moment gekommen: Vater, der bislang durch vornehme Zurückhaltung glänzte, schält sich aus dem Fernsehsessel. Er will den Braten anschneiden, „weil das Männersache ist“, doch sein hilfloses Herumgefuchtel und die Schweißtropfen, die leise in die Soße klatschen, verraten uns: Der Alte wird nicht jünger. Neben uns Oma und Mutter, vor uns mindestens vier Klöße, Berge von Kohl sowie ein Stück Fleisch im handlichen Telefonbuchformat („Hier, das große ist für dich!“). Diese locker-leichte Zusammenstellung wird übergossen mit einer kleinen Flut Soße. Vorsicht: Streit droht, wenn man nach zwei Nachschlägen unverständlicherweise keinen Hunger mehr hat. Dann sagt Vater in charmanter Tonlage: „Lass doch, Mutti – ist doch alt genug, das Kind!“ Einen vernünftigeren Satz werden wir an diesem Abend nicht mehr hören.

Krach

Trotzdem: Zu einem gelungenen Weihnachtsfest gehört ein zünftiger Streit. Gut ist, dass man sich um die Umsetzung dieses Rituals nicht selbst kümmern muss. Mutter und Vater wissen um ihre Verantwortung für das Gelingen der Feier und erledigen das selbstlos. In manchen Familien dient der ork-gleiche Weihnachtsbaum als Anlass, in anderen die Aufzeichnung des Pokalendspiels von 1973, die nebenbei läuft („Kannst du mir mal kurz helfen?“ – „Jetzt nicht, da fällt gleich ein Abseitstor!“), oder dass Mutter während ihrer tagelangen Kochsession doch glatt vergessen hat, genügend Bier einzukaufen – wichtig ist nur, dass das Streitthema Jahr für Jahr das gleiche ist. Trotzdem drängt sich nie der Verdacht auf, die Eltern würden uns nur etwas vorspielen, um den Weihnachtsmythos nicht zu zerstören. Mit einer großartigen Improvisationsgabe geben sie ihrem Thema jedes Mal eine andere Note, liebevoll feilen sie an rhetorischen und darstellerischen Details. Keine Vorstellung ist wie die andere. Und man muss sich keine Sorgen machen, denn das Skript hat stets ein Happyend vorgesehen, nämlich bei der…

Bescherung!

Die Versöhnung ist jedoch nicht die einzige soziale Funktion dieses Tagesordnungspunkts. Die zweite ist, den Verdacht zu bestätigen, dass Menschen mit dem Tag der Geburt ihres ersten Kindes vollständig die Zurechnungsfähigkeit in Bezug auf Geschenke verlieren. Anders ist nicht zu erklären, warum sich einstmals stilsichere Menschen plötzlich für Winterjacken erwärmen können, die einen Regenbogen monochrom erscheinen lassen. Am deutlichsten wird die Präsent-Demenz, wenn die Nachkömmlinge mit dem Freund oder der Freundin zusammenziehen. Alle Appelle, ja, selbst die Androhung, den Kontakt abzubrechen, sind nutzlos: Eine kleines Synapsengeflecht im Kleinhirn befiehlt den Eltern, ein Topfservice und einen Stabmixer zu verschenken. Auch Oma blieb davon nicht verschont. Ihr warmes, aber verständnisloses Lächeln verrät, dass sie liebend gern auf die selbst gebastelte Keramik-Figur verzichtet und stattdessen eine Jumbo-Packung Mon Cheri bevorzugt hätte. Die dritte soziale Funktion der Bescherung ist die Bloßstellung. Eltern glauben, dass ihre Kinder alles über sich ergehen lassen, um an ihre Geschenke zu kommen. Leider haben sie damit Recht. Also singen wir „Stille Nacht“. Und hoffen, dass keiner von den Nachbarn was hört.

Party

Wenn die Kerzen abgebrannt sind, Onkel Werner den Bommerlunder aus dem Schrank holt und einen Alt-Herren-Witz nach dem anderen erzählt, wird es Zeit zu gehen. Leider ernten wir selten Verständnis, wenn wir nach der Geschenkübergabe zu einer Party aufbrechen. „Kannst du nicht mal an Heiligabend zu Hause bleiben?“, fragt Mutter. Wer sie nicht weinen sehen kann, muss ein Tauschgeschäft aushandeln: Man erklärt sich bereit, Oma, die seit drei Stunden friedlich auf der Couch schnarcht, auf dem Weg in die Kneipe mit nach Hause zu nehmen. Tragischerweise haben an Heiligabend nur wenige Clubs geöffnet, deswegen kommt auch die Gardinenkneipe um die Ecke in Frage. Ein wenig Großraumdisko-Atmosphäre lässt sich leicht mit Omas gelbem Geschenk-Pullover erzeugen. Für irgendetwas muss er ja gut sein.

Und morgen

Für chronisch klamme Studenten bietet sich nach Heiligabend die Gelegenheit, dem Weihnachtsfest einen Sinn zu geben: Verwandtenbesuche. Die Einführung des Euro kann in diesem Zusammenhang nicht genug gepriesen werden, denn für Opa Paul und Tante Sabine ist noch immer die Zahl auf dem Geldschein entscheidend und nicht die Währung. Die Einnahmemöglichkeiten haben sich also verdoppelt. Leider haben Verwandte jedoch die Angewohnheit, die Scheine in den krudesten Formen zu übergeben: gefaltet, aufgeklebt, in eine Schokotafel eingebacken. Erfreuliches Nebenprodukt dieser Besuche sind massenweise Kalorien im handlichen Schokoriegelformat, die uns durch den Winter bringen. Hier ist allerdings Vorsicht geboten. Nicht wenige haben wichtige Studienscheine in der Nachweihnachtszeit verspielt, weil sie bei dem Versuch, sich drei Wochen ausschließlich von Marzipankartoffeln zu ernähren, einen Cholesterinschock erlitten. Also öfter mal einen Zimtsterntag einlegen. Sonst müssen wir nächstes Jahr für die Weihnachtsmann-Verkleidung kein Kissen mehr unter die Pullover schieben.

André Görke, Christian Hönicke

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