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Panorama: Der nächste Trip

Sie ist noch ein Kind, als sie das erste Mal abhaut, in die große Stadt fährt. Eine Jugend auf der Straße

Wenn Franziska durch den Ostbahnhof in Berlin läuft, ist es so, als gehe sie durch ein früheres Zuhause, mit all seinen alten Bekannten: „Der sitzt ja immer noch in seiner Ecke“, denkt sie bei dem Obdachlosen vor McDonald’s und der andere, der auf Strümpfen umhertappt, der hat wohl wieder seine Schuhe verloren. Kennt sie noch von ihm, aus ihrer eigenen Zeit hier. Mit neun Jahren haute sie das erste Mal von zu Hause ab, mit elf Jahren wieder, lebte monatelang am Ostbahnhof in Berlin und in Köln auf dem Domplatz.

Jetzt ist sie 16. Und kennt noch die Ecken, wo man besonders gut schnorren kann, oder wo man seine Ruhe vor den Bullen hat. Und dann ist da noch der Platz, der sich am besten zum Schlafen eignet: Rein in die Tiefgarage, rechts rum und dann nochmal rechts. Schon ist man weit genug entfernt von den Sicherheitsleuten und hat es warm, denn oben an der Decke sitzen Schächte, durch die warme Luft geblasen wird.

Diesen Ort haben Franziska ein paar Obdachlose gezeigt, als sie das erste Mal „losgegangen“ ist. Losgehen ist das Franziska-Wort fürs Abhauen, weg von zu Hause, einem Reihenhaus in der Nähe von Frankfurt an der Oder, wo sie zusammen mit den Eltern und der fünf Jahre älteren Schwester lebte. Die sei immer bevorzugt worden, sagt Franziska. „Nimm dir doch mal ein Beispiel an deiner Schwester, hieß es ständig.“ So auch eines Tages, als die neunjährige Franziska beim Spielen mit ihrer Freundin Lisa die Zeit vergisst und zu spät nach Hause kommt. Riesenärger, großes Schimpfen und wieder: Warum bist du nicht wie deine Schwester! Dieser Spruch kommt einmal zu oft. Franziska knibbelt ihr blaues Sparschwein mit den rosa Blümchen unten auf, holt zwanzig Mark heraus, packt einen Block, einen Stift und einen Pulli in ihren Rucksack und stiefelt zum Bahnhof. „Ich wollte meine Eltern einfach schocken, sie aufrütteln“, sagt Franziska, und ihr sauber gescheiteltes Haar fällt wie ein Vorhang vor ihre Augen, die so grün sind, dass man sie vom Fleck weg für einen Kontaktlinsen-Werbespot engagieren würde. Auf ihrem T-Shirt prangt in fetten Lettern das Wort „Endstation“.

Der Zug, in den sie sich damals setzte, brachte sie zum Berliner Ostbahnhof. Dort quatschte sie vier Obdachlose an. Und die fragten nicht groß, sondern nahmen sich des neunjährigen Mädchens an. Zwei Männer und zwei Frauen Anfang 20. Sie besorgten ihr Essen, nahmen sie mit nach Köln. Nach ein paar Wochen fing Franziska an, wieder über zu Hause zu reden – über ihre Freunde, über das Essen, das ihre Mutter kochte. Irgendwann wusste sie: „Ich will zurück.“ Die Erwachsenen organisierten Geld und brachten die Kleine zum Zug. Als Franziska zu Hause ankam, sagte ihr Vater: „Na, auch mal wieder hier?" Mehr nicht. Aber in Franziskas Zimmer wurden die Griffe von den Fenstern abmontiert.

Es vergehen anderthalb Jahre, da geht Franziska wieder los, inzwischen ist sie elf. „Ich hab’ Freunden gesagt, ich bräuchte Geld für eine neue Hose, und dann bin ich weg mit der Kohle.“ Diesmal packt sie mehr ein, vor allem warme Pullis, es ist schon Herbst, und sie fährt direkt nach Köln. „Du kommst raus aus dem Bahnhof und stehst sofort vor dem Dom. Und dann haste noch die ganzen schönen Menschen mit den bunten Haaren da.“

Franziska lebt wieder auf der Straße, beginnt, schon zum Frühstück Schnaps zu trinken. „Das war wie der Kaffee am Morgen.“ Mit einem anderen Straßenjungen denkt sie sich Schnorrsprüche aus. „Haben Sie etwas Kleingeld gegen kalte Hände, auch wenn es heute warm ist?“, zum Beispiel. Den mögen die beiden am liebsten, aber den Leuten dabei in die Augen schauen, das traut sich Franziska nie. „Auch wenn man mit der Zeit alles an Ehre verliert, das ging nicht.“

Nach einigen Wochen hat Franziska wieder dieses Gefühl: innere Unruhe, Hummeln im Hintern, etwas in dieser Richtung, ein passendes Wort hat Franziska nicht dafür. „Man will eben einfach nur losgehen.“ Hauptsache weg, es soll sich nur bloß irgendetwas verändern, und so setzt sie sich in den Zug nach Berlin. Wieder Ostbahnhof, wieder Schlafen in der Tiefgarage, den Kopf auf dem Rucksack, den Arm in dessen Tragegurt, damit nichts aus ihm geklaut wird. „Am sichersten habe ich mich gefühlt, wenn ich ganz allein war.“ Wenn sich nachts etwas bewegte, dachte sie: Hat da jemand gesehen, wie viel ich geschnorrt habe? Dass es mehr war, als er gekriegt hat? Will er sich das jetzt holen?

„Trotzdem waren wir irgendwie eine Familie“, sagt Franziska. Lustig, laut miteinander. Zum Beispiel als ihr Sonja, eine andere Obdachlose, den ersten Iro rasierte. Den hatte sich Franziska schon ewig gewünscht. Rotblau wurde er, zusammengepanscht aus lauter Restfarben. „Sah total scheiße aus, aber ich fand’s toll.“

Aber immer wenn es ums Geld ging, wurde es schwierig, das brauchten alle, um Drogen zu kaufen. Koks, Speed – sie hätten alles genommen, was man durch die Nase ziehen kann, sagt Franziska. Irgendwann fing sie an, sich Heroin zu spritzen, das hatte ihr irgendein zugedröhnter Typ angeboten. „Ich habe es genommen, weil ich dachte, dass es mich schmerzunempfindlicher macht.“ Nichts mehr spüren, innen wie außen, darum ging es.

Am Ende spritzte Franziska sich dreimal am Tag Heroin. Mit elf Jahren. „Da war ich wie ein Geist, saß nur noch da und starrte vor mich hin.“

Bis sie irgendwann völlig drauf aufstand, in den Zug stieg und nach Hause fuhr. Da war sie schon einige Monate unterwegs. So richtig erinnern kann sie sich an die Zeit nicht mehr, sagt Franziska – nur daran, dass sie so weit unten war wie noch nie, umgeben von Leuten, die genauso kaputt waren. Alles, was blieb als Fluchtpunkt in ihrem Kopf, war der kleine Ort in der Nähe von Frankfurt an der Oder, das Haus, das Zimmer, die Eltern. Abmontierte Griffe hin oder her.

Die Eltern sind gar nicht da, als Franziska ankommt. Sie stellt den Rucksack ab, mitten im Zimmer, zieht sich aus und steigt unter die Dusche. „Das war ein bisschen wie wieder Mensch werden.“

Es folgte ein dreiviertel Jahr in einer Klinik für Suchtkranke und viele Auseinandersetzungen mit den Eltern. Da erst erfährt sie auch, dass sie adoptiert ist, während die Schwester, die ihr immer bevorzugt vorkam, ein leibliches Kind ist.

Heute, mit 16 Jahren, sei ihr Verhältnis zu den Eltern gut, sagt Franziska. Aber sie hält Abstand: Hat eine eigene Wohnung in Berlin, macht eine Ausbildung zur Sozialassistentin, das ist eine Art Erzieherin für Kleinkinder. Als ihre wahre Familie bezeichnet sie die Menschen von „Straßenkinder“, einem Verein für obdachlose Jugendliche. Jeden Tag geben sie am Alex Essen aus, da geht auch Franziska hin, weil Kohle eigentlich immer knapp ist. Deshalb schnorrt sie auch noch, aber weniger als früher, trinkt manchmal zu viel, aber drückt nicht mehr. Und sie hat eine feste Regel: Mit niemanden einlassen, der keine Wohnung hat. So etwas könne sie nicht gebrauchen in ihrem Leben, sagt sie. „Da soll Ordnung rein.“

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