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Panorama: Die rote Schleife und die Nationalhymne

Unsere Kolumnistin Suzan Gülfirat erinnert sich an ihre Schulzeit in der Türkei

In der ersten Klasse in Istanbul bekam ich als Klassenbeste eine rote Schleife angesteckt. Zu verdanken hatte ich das dem Bruder meiner Mutter, der heute Gymnasiallehrer ist. Der Sohn eines armen Priesters studierte damals und wohnte glücklicherweise nebenan. Ich schaute ihm gerne zu, wenn er Transparente beschrieb, mit denen er auf die Studentendemos ging. Er brachte mir das Lesen und Schreiben bei, bevor ich in die Schule kam. Meine jungen Eltern konnten mir nicht helfen. Sie waren kurz nach meiner Geburt nach Istanbul gezogen, weil mein Vater in Anatolien keine Arbeit fand. Aber auch dort mussten wir oft von den Almosen der Nachbarn leben. Meine Mutter bewarb sich deshalb 1969 im Alter von 23 Jahren in einem „Anwerbebüro“ in Istanbul als Gastarbeiterin, weil die Fabriken eher Frauen wollten.

Mein Vater brachte meine zwei kleinen Brüder und mich zu seinen lieblosen Eltern nach Anatolien, weil er uns allein nicht versorgen konnte. An die Zeit in der zweiten Klasse habe ich deshalb trotz der guten Noten keine schönen Erinnerungen. Zwei Mal schlug die Lehrerin mit dem Stock in meine Handinnenflächen. Das erste Mal schlug sie zu, weil ich meine Hausaufgaben nicht zu Ende gemacht hatte. Das zweite Mal war der weiße Kragen meiner Schuluniform verdreckt. Täglich wurden wir auf Sauberkeit überprüft. Einmal in der Woche mussten wir uns vor der Schule aufstellen, die Nationalhymne singen.

1970 holte meine Mutter endlich die ganze Familie nach Berlin nach. Wir wohnten in einer schäbigen Ein-Zimmer- Wohnung in Schöneberg mit Außentoilette und ohne Bad, aber das war mir egal. Kleine Kinder im Alter von knapp acht Jahren wollen nur bei der Mutter sein. Um den Anschluss nicht zu verpassen, ging ich an zwei Nachmittagen in der Woche in den Unterricht des türkischen Konsulats. Wir sollten ja bald wieder zurückkehren – dachten wir damals.

In der dritten Klasse verstand ich kaum ein Wort. Außerdem litt ich darunter, dass mich einige Kinder als „Kümmeltürkin“ hänselten. Aber dank der roten Schleife hatte ich jetzt nur noch ein Ziel: Ich wollte so gut sein wie in der türkischen Schule. Später studierte ich. Wie mein Onkel seinerzeit. Noch heute hängt das Schicksal vieler Migrantenkinder eher vom Zufall ab. Ich hatte Glück.

Suzan Gülfirat ist 42 Jahre alt und betreut unter anderem unsere Kolumne „Gazeteler Rückblick“, die montags erscheint.

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