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Panorama: Don’t cry for me Rio Gallegos

Unsere Autorin war ein Jahr als Austauschschülerin in Argentinien. Hier ist Sophies Reisebericht

Was mein Bruder kann, das kann ich schon lange. Dachte ich zumindest, als ich mich mit 16 entschloss, für ein Jahr als Austauschschülerin nach Südamerika zu gehen. Mein Bruder war in Thailand, und ich wollte auch weg. Argentinien wählte ich aus, weil es als das europäischste unter den südamerikanischen Ländern galt. (Exotisch sollte es zwar werden, aber auch nicht zu exotisch!) Ich bewarb mich bei der Austauschorganisation Youth for Understanding. Die Zusage kam im Februar. Daraufhin wurden meine Bewerbungsunterlagen an verschiedene Familien in Argentinien geschickt, die einen Austauschschüler aufnehmen wollten. Ich wurde von meiner Gastfamilie unter vielen anderen ausgewählt. Zwei Monate vor meiner Abreise erhielt ich ihre Adresse. Zeit genug für eine erste Kontaktaufnahme und eine Antwort aus Argentinien.

Als ich in Rio Gallegos ankam, lag die Stadt unter einer dicken Schneedecke begraben. Es war der kälteste Winter seit 30 Jahren. Als ich mich am Frankfurter Flughafen von meinen Eltern verabschiedet hatte, waren die Temperaturen auf über dreißig Grad geklettert. Das alles schien mir jetzt unendlich weit entfernt. Die Argentinier nennen diesen Teil ihres Landes das Ende der Welt. Rio Gallegos, Hauptstadt der Provinz Santa Cruz, 70 000 Einwohner. „Für Besucher hat die Stadt wenig zu bieten“ steht im Reiseführer.

Eine alte Austauschschüler-Weisheit besagt, dass man sich entweder besonders gut mit seiner Gastfamilie versteht oder – wenn es in der Gastfamilie nicht so gut läuft – viele Freunde findet. Ersteres traf auf mich zu. Mit meiner Gastfamilie hatte ich großes Glück. Da waren meine Gasteltern Toti und Cici, Geschäftsmann und Richterin, und meine zwei Gastschwestern Griselda und Julia. Griselda war ein Jahr älter als ich, Julia anderthalb Jahre jünger. Und dann war da noch Avril, ein rundlicher Pekinese mit hervortretenden Augen und Dreadlocks.

Jeder Austauschschüler erlebt mindestens eine besonders unangenehme Situation, die sich aus dem Austauschschülerdasein ergibt. Eine Situation also, die mit der fremden Kultur, der fremden Sprache, den Verhältnissen im fremden Land zu tun hat. Ich hatte ein solches Erlebnis in meiner ersten Woche in Argentinien. Ich stand unter der Dusche – eingeseift, die Haare shampooniert – als plötzlich das Wasser wegblieb. Ich wartete, nichts passierte. Ich wartete länger und langsam wurde mir kalt. Nur mit einem Badehandtuch bekleidet lief ich auf den Flur und machte mit nackten Händen und Füßen auf die Wasserproblematik aufmerksam. Die Leitungen waren zugefroren. Aber was tun mit Schaum auf Kopf und Körper? Meine Gastmutter sammelte im Garten Schnee und brachte ihn zum Schmelzen.

Ja. Nein. Danke. Aus diesen Begriffen bestand mein Wortschatz, als ich nach Argentinien kam. Ich hätte also anfangs noch nicht einmal ein Bier bestellen können. Es heißt, dass sich Fremdsprachen am besten vor Ort lernen lassen. Vorkenntnisse schienen mir daher verzichtbar zu sein. In den ersten Monaten fühlte ich mich oft, als hätte ich ein Schweigegelübde abgelegt. Denn in Argentinien spricht niemand gut Englisch. Anfangs war mein einzige Bezugsperson Griselda, die als Austauschschülerin in den USA gewesen war und sich auf Englisch mit mir verständigen konnte. Alles musste sie für mich übersetzen, ich war total abhängig. Das war belastend für sie und für mich. Ich war glücklich, dass ich Wörterbücher in verschiedenen Größen dabei hatte, die ich je nach Gelegenheit mitnehmen konnte: kleines Wörterbuch für die Disko, großes Wörterbuch für die Schule. Meine sozialen Kontakte litten darunter, dass ich anfangs jedes zweite Wort mühsam nachschlagen musste. Selbst die interessanteste Unterhaltung kam so ins Stocken. Mein erster Satz war: „Ist die Wasserversorgung gewährleistet?“

Jeder Schultag begann um Viertel vor acht mit einem Appell in der Turnhalle. Die argentinische Fahne wurde im Beisein aller Schüler gehisst. Dazu sang man die Fahnenhymne. Die Schuluniform sah wie ein Ärztekittel aus: Das weiße Oberteil reichte bis über den Hintern, nicht selten bis zu den Kniekehlen. Um zwölf Uhr war der Unterricht vorbei, so dass die Schule keinen allzu großen Raum im Leben der argentinischen Jugendlichen einnahm. Ich war in den ersten Monaten nicht unglücklich darüber, denn ich konnte dem Unterricht kaum folgen. Für meine Klassenkameraden war ich zunächst eine große Attraktion. Alle stürzten sich auf mich und stellten Fragen. Nur leider konnte ich nicht antworten, und deshalb war das Interesse an mir schnell verflogen. Erst nach den Sommerferien konnte ich mich – meinen neuen Spanischkenntnissen sei Dank – in meiner Klasse ein paar Freunde finden. Die größten Umstellungen erlebte ich aber mit dem Essen. Gegen 18 Uhr stellte sich bei mir ein leises Hungergefühl ein, aber gegessen wurde in meiner Familie erst gegen 22 Uhr. Das Warten lohnte sich jedoch meistens. Das Fleisch war unvergleichlich gut. Nur einmal bekam ich das Essen nicht runter: Es gab Suppe mit Rinderzunge.

Uns Austauschschülern wurde empfohlen, nicht oft telefonischen Kontakt zu unseren Familien in Deutschland aufzunehmen. Denn häufige Telefonate würden das Heimweh verschlimmern. Ich glaube fast, dass ich diesen Ratschlag zu ernst genommen habe: Ich rief in den ersten sieben Monaten gar nicht zu Hause an! Einerseits hatte ich Angst, am Telefon in Tränen auszubrechen. Anstelle von Telefonaten schrieb ich Briefe. Manchmal wäre ich am liebsten mit der nächstbesten Maschine wieder zurück nach Hause geflogen. Die Auslöser für mein Heimweh waren oftmals nur Kleinigkeiten: Griselda stellte den Fernseher ab, obwohl ich gern noch weiter geguckt hätte. Oder ich war traurig, dass noch nicht einmal zu meinem Geburtstag mein Name richtig ausgesprochen wurde.

Ein Jahr hatte ich in Argentinien gelebt. Es war trotzdem ein gutes Gefühl, danach das erste Mal deutschen Boden zu betreten. Es war gut, wieder zu Hause zu sein. In der Empfangshalle am Flughafen warteten Familien und Freunde. Manche trugen Transparente: Willkommen zu Hause! Weil ich bei der Gepäckausgabe nicht hatte warten müssen, kam ich als Erste durch die Tür. Fremde Eltern bestürmten mich sofort mit Fragen nach ihren Kindern. Meine Familie ließ sich nicht blicken. In mir stieg Verzweiflung auf. Würde ich denn nicht abgeholt werden? Endlich kam meine Mutter auf mich zu. „Wir haben dich nicht erkannt“, sagte sie. Nicht wiedererkannt zu werden von den eigenen Eltern ist zweifellos ein traumatisches Erlebnis. Na ja, ich war jetzt blond und hatte sechs Kilo abgenommen.

Sophie Goetze

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