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Panorama: Ein Leben im Schneckenhaus

Ravi, 17 Jahre alt, ist ein Flüchtling aus Indien. Er lebt in Moabit. Wie lange er bleiben darf, weiß er nicht

Das Leben eines angekommenen Flüchtlingsjungen ist eigentlich ziemlich normal. Er hat ein Zimmer, ein Handy und ein paar Freunde, kriegt Taschengeld und geht zur Schule. In seinen deutschen Sätzen fehlt oft das Verb, aber das tut es bei den meisten seiner Klassenkameraden auch. Was fehlt, ist der erste Teil seiner Geschichte, in dem er in einem anderen Land lebte, in einer anderen Sprache redete und eine Familie hatte.

Und es fehlt der Plan für den zweiten Teil, denn seine Zeit in Deutschland kann jederzeit zu Ende sein.

636 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge haben letztes Jahr in Deutschland einen Antrag auf Asyl gestellt, 253 davon in Berlin. Die meisten kamen aus Vietnam, Äthiopien, Türkei, Eritrea und Afghanistan. Schlepper bringen sie für viel Geld über die Grenze, und lassen sie dann allein, ohne Papiere und ohne, dass sie ein Wort Deutsch können. Irgendwann werden sie von der Polizei aufgegriffen, viele melden sich selber. Dann nimmt der Staat sie in Obhut. In Berlin liegt die Erstaufnahmestelle für minderjährige Flüchtlinge in Wedding und nennt sich ganz offiziell „Clearingstelle“. Geklärt werden soll erst mal das Alter, denn das steht in den meisten Fällen nirgendwo geschrieben. Keiner hat bei seiner Ankunft einen Ausweis. Jeder weiß schon kurz darauf, dass es besser ist, sich jünger zu machen. Denn die Minderjährigkeit ist der beste Schutz eines Flüchtlings. Lange währt sie nicht. Mit 16 Jahren ist ein ausländischer Jugendlicher erwachsen, kann abgeschoben und inhaftiert werden.

Einer von ihnen heißt Ravi. Er sagt, er sei 17, mit 14 sei er aus Indien nach Deutschland gekommen. Ob wir uns treffen können? „Kein Problem, Mam“, hat er gesagt und steht jetzt auf dem Gleis auf dem Berliner Ostbahnhof. Ravis schwarze Haare sind an den Seiten kürzer rasiert, die Hose sitzt locker, aus der Tasche guckt die Schlüsselkette. Ein trainierter Oberkörper und ein weiches Gesicht. Wir gehen zu McDonald’s, er bestellt einen Kakao und will für beide zahlen. „Kein Problem“ ist die freundliche Antwort auf fast alle Fragen nach seinem Leben, „wenn man gut ist, sind die anderen auch gut“. Erst später erzählt er von seiner Ankunft. Davon, wie er zwei Tage auf einem S-Bahnhof geschlafen hat und in den Zügen und dann selbst zur Polizei ging. Dass er keine Vorstellung von Berlin hatte und kein Wort verstand. Das Schlimmste, was jetzt noch passieren könnte? „Dass ich wieder weg muss“.

Duldung heißt der Status der Flüchtlinge, was nichts anderes bedeutet als „weiterhin zur Ausreise verpflichtet“. Kein Aufenthaltstitel, sondern ein Aufschub. Geduldet sein, das ist wie ein Schulterzucken vor dem Kopfschütteln der Beamten. Erst sind sie ratlos (Was soll die Behörde mit einem passlosen Minderjährigen machen?), manchmal abgelenkt (Solange er zur Schule geht) oder ängstlich (Bei Abschiebung Minderjähriger gibt es oft einen großen Medienrummel, was die Arbeit nicht erleichtert).

Doch irgendwann beginnt sich der Kopf bedenklich zu wiegen und die Abstände, in denen sich die Flüchtlinge bei der Ausländerbehörde melden müssen, werden kürzer. Kurz vor dem Kopfschütteln tauchen dann viele lieber unter.

Einen der ersten Menschen, die Ravi in Berlin traf, war Andreas Meißner, von Akinda, einem Verein, der ehrenamtliche Vormunde für minderjährige Flüchtlinge sucht. Mit Andreas ist Ravi damals kurz nach seiner Ankunft zur Anhörung gefahren, nach Spandau zur Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Zusammen mit dem Dolmetscher saßen sie vor dem Beamten, dem Ravi seine Flucht schildern sollte. Jeder im Raum wisse, dass die Geschichten, die hier erzählt werden, manchmal nicht die ganze Wahrheit enthalten, sagt Andreas Meißner. Manche handeln von Bürgerkriegen und Verfolgung und sind zu schlimm, um erzählt zu werden. Andere gehen um Geld und Eltern, die ihre Kinder wegschicken, um welches zu machen. Ihre Flucht ist ein Geheimnis, das die Flüchtlinge mit sich herumtragen und auch später kaum jemanden erzählen. Nur manchmal bricht bei dem einen oder anderen plötzlich die blinde Wut heraus.

Auch bei Ravi weiß man nicht, was ihm in seinem Heimatland passiert ist. Nur dass er aus einer Stadt in Nordindien kommt, erfahre ich beim nächsten Treffen, diesmal bei Burger King an der Yorckstraße, und dass er einen jüngeren Bruder und eine Schwester hat. Ob er sie vermisse? Ravi guckt lange geradeaus und bleibt stumm. Darüber wolle er nicht reden. Danach ist es schwierig wieder ins Gespräch zurückzufinden.

In den ersten Jahren hat Ravi im Jugendheim in Zehlendorf gewohnt. Ein Neubau, gelblich gestrichen, ein bisschen abseits, zwanzig Haltestellen mit dem Bus zum Bahnhof Zoo. „Eher heimig als heimelig“, sagt selbst Carola Roder-Diagne, Sozialarbeiterin im Heim, obwohl sie sich hier alle Mühe geben. Bunt gestrichene Wände im Aufenthaltsraum, ein Orientzimmer mit Kissen auf dem Boden, ein paar Türen weiter Fitnessgeräte und Computer. Jeder hat ein Einzelzimmer, mit Tisch, Schrank, Bett und Kühlschrank. Morgens gibt es gemeinsames Frühstück, nachmittags vom Bäcker gespendete Kuchenteilchen. Nur kochen muss jeder selbst und zur Schule gehen.

Sie könne zwar jeden Morgen die Runde machen und die liegen gebliebenen Jungs aus den Betten stoßen, sagt die Sozialarbeiterin. Sie könne mit der Schule telefonieren, um zu kontrollieren, ob sie angekommen sind und schimpfen, wenn sie es nicht sind. Sie macht das alles immer wieder mit viel Gutmütigkeit. Letzten Endes läge die Entscheidung aber bei jedem selbst.

Und die Entscheidung für einen Schulabschluss leuchtet vielen nicht ein. Wozu einen Abschluss, wo sie doch nicht mal wissen, wie lange sie bleiben werden. Die meisten wollen gleich arbeiten und tun das schwarz, auch neben der Schule. Das Geld schicken sie in die Heimat. Eine Arbeitserlaubnis kann man theoretisch nach einem Jahr beantragen, aber die Chancen für geduldete Flüchtlinge über den normalen Bewerbungsweg Arbeit zu finden, sind gleich null. Einzige Möglichkeit ist eine Ausbildung bei einer schulischen Einrichtung. Und auch dazu muss man erst mal die Sprache lernen. Ravi macht einen Kurs, der ihn auf die Aufnahmeprüfung für die Volkshochschule vorbereitet, die ihn darauf vorbereitet soll, den Hauptschulabschluss nachzumachen. Er will eine Ausbildung zum Verkäufer machen. Verkaufen, das könne er, „nicht zu gut sein zu den Leuten, nicht zu schlecht“. Er würde immer die Mitte suchen.

Seit einem Jahr lebt Ravi in einer WG. Eine schöne helle Altbauwohnung in Moabit, einmal in der Woche kommt eine Betreuerin zur WG-Sitzung. Vom Jugendamt bekommt er 280 Euro im Monat, davon muss er den Strom für seine Wohnung zahlen und das, was er sonst zum Leben braucht. „Kein Problem“, sagt Ravi. Essen würde er immer zu Hause, indisch, irgendwann will er mal Koch werden. Hat er Hobbys? Dass er gerne tanzen gehe, könne ich schreiben, sagt er, am liebsten höre er Hip-Hop. Seinen nigerianischen Mitbewohner nennt er „50 Cent“, so wie den Rapper. Ein Running Gag unter den schwarzen Flüchtlingen.

Doch, er habe viele Freunde, sagt er, solche zu denen man nur „hi“ sagt, aber auch einen besten. Die meisten sind Inder oder Pakistaner. Seine Freundin ist Türkin. Der nächste Termin bei der Ausländerbehörde ist im Februar.

Wieso ich das alles aufschreiben will, fragt er am Ende unseres letzten Treffens. Nach meinem Erklärungsversuch fasst er zusammen: also so etwas wie Reklame. Ja, vielleicht so etwas in der Art.

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