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Panorama: Einschulung ohne Schultüte

Bildungspolitiker Özcan Mutlu lernte Deutsch beim Spielen und wurde Ingenieur

Es war Oktober. Die Tage wurden kürzer. Im nächsten Sommer stand meine Einschulung bevor. Ich konnte es kaum erwarten. Aber es kam anders.

Im November 1973 trat der Anwerbestopp für Gastarbeiter in Kraft. Also beschloss mein Papa im fernen Deutschland, dass meine Mutter mit mir und meinem kleinen Bruder zu ihm nach Berlin aufbrechen sollten. Ich wollte gar nicht weg, wäre viel lieber in unsere Schule gegangen. Nicht einmal die Neugier, endlich mit einem „Tayere", einem dieser wunderbaren Fluggeräte, in die Lüfte zu steigen, weckte Vorfreude.

In Berlin angekommen, war ich überwältigt von den vielen großen Häusern und Autos. Obwohl ich nur Türkisch konnte, fand ich Freunde, denn ich nutzte meine Hände und Füße zur Kommunikation. Nach und nach lernte ich Deutsch: Dabei halfen mir das Spielen mit deutschen Kindern und die Sesamstraße im Fernsehen.

Meine erste Überraschung erlebte ich, als ich endlich eingeschult wurde. Plötzlich befand ich mich ausschließlich unter türkischen Kindern. So viele türkische Kinder auf einem Haufen hatte ich seit unserem Dorf nicht erlebt. Manche trugen etwas Längliches unterm Arm und klammerten sich richtig daran. Später sollte ich lernen, dass das Schultüten mit allerlei Süßigkeiten waren. An meinen Eltern ging diese Tradition leider vorbei.

Bis zur vierten Klasse war ich in einer so genannten Ausländerregelklasse und hatte kaum Kontakt zu deutschen Schülern. Allein den Sprachkenntnissen, die ich beim Spielen auf der Straße erworben habe, verdanke ich es, dass meine Lehrerin mich aus dieser Ausländerregelklasse herausnahm. In meiner neuen Klasse an der Kreuzberger Heinrich-Zille-Grundschule waren wir 27 Schüler aus 12 Nationen. Unsere gemeinsame Sprache war Deutsch.

Die neue Situation war alles andere als einfach, denn den Anschluss an das Leistungsniveau der neuen Klasse fand ich nur schleppend: Mangels ausreichender Sprachfertigkeiten verpasste ich viel Unterrichtsstoff. Dennoch brachte ich es schließlich – zum Stolz meiner Eltern – bis zum Diplom-Ingenieur. Je besser ich Deutsch konnte, umso mehr musste ich Dolmetscherdienste für meine Verwandten übernehmen — bei Behörden, Ärzten und sonstigen Einrichtungen. Für mich als kleinen Steppke waren das willkommene Gelegenheiten, der Schule fernzu- bleiben. Meine Eltern waren nicht sensibilisiert dafür, dass mir durch das Dolmetschen Lernstoff entging. Sie hatten ja auch sonst niemanden dafür.

Heute holt mein Sohn Papis frühe Grundschulzeugnisse hervor, wenn ich ihn wegen seiner „Bequemlichkeit“ zu mehr Leistung ermahne. Dass Papi später als 16-Jähriger das beste Kreuzberger Abschlusszeugnis bekam und dafür sogar prämiert wurde, interessiert ihn nicht so sehr...

Özcan Mutlu, 36, ist bildungs- und migrationspolitischer Sprecher der Fraktion der Bündnisgrünen im Abgeordnetenhaus

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