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Panorama: Französisch? Das ist eine Großfamilie in Burgund

Gesine Schwan, Universitätspräsidentin, weiß, dass Sprachen mehr sind als Grammatik

Mit dreizehn Jahren, da hatte ich schon drei Jahre das Französische Gymnasium in Reinickendorf besucht, war ich noch nie in Frankreich gewesen. Meine Eltern schickten mich deshalb in das Dörfchen Saint Vit nahe Besançon in Burgund. Nach 20 Stunden Zugfahrt kamen wir in ein großes Haus aus dem 18. Jahrhundert mit einer riesigen Küche. Darin wohnte eine Apothekerfamilie. In dem Haus waren noch zehn andere Kinder, die Kostgänger der Familie waren. Es gab auch eine italienische Großmutter und unzählige Hunde und Katzen. Alle redeten laut durcheinander. Ich verstand kein Wort.

Schon nach drei Wochen verstand ich viel, am Ende der sechs Wochen alles. Noch heute sind bestimmte französische Wörter für mich untrennbar mit Situationen verbunden, die ich in Saint Vit erlebt habe: beim Abendessen, beim Baden, beim Kartenspielen. Nach wie vor denke ich bei „atout“ (Trumpf) sofort an unsere abendlichen Runden in Saint Vit.

Fünfzehn Jahre später bin ich wieder dort hingefahren. Ich ging gerade über den Hof des Hauses, da rief die Mutter von oben: „Da ist ja die Gesine.“ Es war ein schönes Wiedersehen. Die Mutter hatte mich sofort erkannt und drei Tage zuvor auch noch alte Weihnachtskarten von mir sortiert. Der Kontakt zu der Familie hält nun seit über 50 Jahren an.

Was ist die Moral von der Geschichte? Als Hochschullehrerin glaube ich an die Bedeutung von Bildung und auch an die Institutionen, die sie vermitteln, also vor allem die Schulen und Universitäten. Doch ich erkenne auch klar, wo die Grenzen formaler Bildung liegen. In drei Jahren auf dem Französischen Gymnasium habe ich nicht so viel Französisch gelernt wie in Saint Vit in sechs Wochen. Deshalb werbe ich an der Europa-Universität Viadrina ständig um Mittel für Exkursionen. Dieses Geld, vornehmlich von Privatunternehmen, wird dazu benutzt, deutsche und polnische Studenten für gemeinsame Wochenenden zusammenzubringen, damit sie sich auch außerhalb des Uni-Alltags austauschen können.

Wenn man keinen direkten Kontakt zu den Menschen und der Kultur eines anderen Landes hat, hilft der beste Unterricht nichts. Denn Sprachen bestehen nur zur Hälfte aus Vokabeln und Grammatik, die andere Hälfte ist gelebtes Leben.

Gesine Schwan ist 61 Jahre alt und Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Bei der letzten Wahl des Bundespräsidenten hat sie für die SPD kandidiert.

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