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Panorama: Für den Jahrgang ’89 ist der Mauerfall nur ferne Geschichte Ein Fragebogen und 130 Schüler aus Ost und West: Die DDR – das war das Land ohne Arbeitslose

Sie saßen im Kinderwagen, als die Mauer fiel, lernten laufen, als die D-Mark kam und wurden eingeschult, als Honecker starb. Sie wohnen nur wenige hundert Meter vom ehemaligen Todesstreifen entfernt.

Sie saßen im Kinderwagen, als die Mauer fiel, lernten laufen, als die D-Mark kam und wurden eingeschult, als Honecker starb. Sie wohnen nur wenige hundert Meter vom ehemaligen Todesstreifen entfernt. Sie unterscheiden noch zwischen Ossis und Wessis, aber: Was wissen heutige Zehntklässler von der DDR?

Der Tagesspiegel stellte in vier Schulen rund 130 Jugendlichen zehn Fragen rund um den anderen deutschen Staat und sein Ende. Mit dabei waren die Emanuel-Lasker-Realschule (Friedrichshain), die Max-von-Laue-Realschule (Lichterfelde), das Robert-Blum-Gymnasium (Schöneberg) und das Rosa-Luxemburg-Gymnasium (Pankow) .

Eine Voraussetzung galt für alle gleichermaßen: Im Geschichtsunterricht haben sie die DDR noch nicht durchgenommen. Bei ihnen ist gerade die Nazi-Zeit dran oder sogar noch Weimar. Wenn alles gut geht und sie den Vietnam-Krieg und vieles andere auslassen, schaffen sie es noch vor der Mittleren Reife bis zum Mauerfall. Das bedeutet: Die Zehntklässler wissen nur das, was ihnen ihre Eltern erzählen oder was sie irgendwo aufschnappen. Die einen haben „Good bye Lenin" gesehen, die anderen einen Dokumentarfilm zum Mauerfall.

Was dabei hängen bleibt, ist insgesamt eher dürftig. Die Grundkenntnisse lassen sich ungefähr so zusammenfassen: Deutschland wurde zwischen den Alliierten geteilt, am 17. Juni 1953 gab es einen Aufstand, die Mauer wurde 1961 gebaut, weil zu viele in den Westen flüchteten, vom Namen her kennt man Honecker, der oft auch „Honiker" heißt. Von Walter Ulbricht fehlt fast jede Spur, ebenso von Mielke, Grothewohl oder Modrow. Die Zahl der Mauertoten schwankt zwischen 35 und 6000 (korrekt wäre rund 1000). Die Mauer fiel, weil sich jemand „verplapperte". Auf die Frage, was denn an der DDR gut gewesen sei, heißt es fast übereinstimmend „alle hatten Arbeit".

Umgekehrt heißt die Hauptassoziation mit der Bundesrepublik „Arbeitslosigkeit". Und deshalb haben insbesondere die Friedrichshainer Realschüler eine große Distanz zur Bundesrepublik. „Sie wollen die DDR nicht wieder haben, aber sie können sich auch nicht mit der BRD identifizieren. Da ist so etwas Vaterlandsloses", erzählt Geschichtslehrerin Regina Wessendorf. Aus Gesprächen mit ihren Schülern hat sie den Schluss gezogen, „dass sie sich als Ossis fühlen, obwohl die Mauer für sie nur ferne Geschichte ist".

Und obwohl ihre Schule nicht weit entfernt ist von der Oberbaumbrücke, fehlt den Schülern jedes Gefühl dafür, dass an der Spree früher die Welt zu Ende war. Auch für die West-Schüler ist ein Leben ohne Mauer so selbstverständlich, dass man in Gesprächen selten noch echte Freude und Erleichterung über den Mauerfall heraushören kann. Von den Schöneberger Schülern etwa sagte ein Drittel, dass sie noch nie mit ihren Eltern über den Mauerfall und die DDR gesprochen haben und nie auf den Spuren der Mauer unterwegs waren. Andererseits gibt es aber auch etliche, die sich für die Mauer interessieren, weil ihre Eltern ihnen erzählt haben, dass sie sie als Baby mit zur Maueröffnung mitgenommen haben.

Auffällig ist, wie sehr sich viele Schüler auf ihren Kiez beschränken: Sie überwinden kaum die Bezirksgrenzen und pendeln nur selten von West nach Ost oder umgekehrt. Viele Westberliner Schüler waren am Brandenburger Tor erst ein Mal: beim Wandertag.

Andererseits gibt es auch tausende Schüler pro Jahr, die mit ihren Lehrern zur Stasi-Gedenkstätte nach Hohenschönhausen fahren oder sich im Robert-Havemann-Archiv umsehen. Allerdings bedauern die Ausstellungsmacher, dass wesentlich weniger Lehrer aus den östlichen Bezirken als aus dem Westteil kommen. „Viele Ost-Lehrer haben ein anderes Bild von der DDR, als es in diesen Ausstellungen gezeigt wird“, sagt ein Lehrer, der ebenfalls beschlossen hat, „da nicht mehr hinzugehen“.

Und das waren die Fragen und Antworten. Die Schüler hatten 20 Minuten Zeit:

1. Wann wurde die Mauer gebaut und warum?

Bis auf wenige Realschüler aus Lichterfelde nannten alle korrekt das Jahr 1961, die meisten kannten das genaue Datum. Einige verlegten den Mauerbau in die siebziger Jahre oder ins Jahr 1949. Auf die Frage nach dem „Warum?“ antworteten Ost- und Westberliner Schüler leicht unterschiedlich: Während im Westen die meisten einfach angeben, dass die DDR-Regierung die Massenflucht verhindern wollte, schwingt in vielen Antworten im Ostteil Verständnis für den Mauerbau mit. Ein Drittel der Gymnasiasten gibt an, dass es unfair gewesen sei, dass die Ostdeutschen im Westteil der Stadt gearbeitet hätten, viel Geld verdienten und damit im Osten wie die Könige lebten, was andere neidisch machte. Manche schrieben, die DDR-Regierung habe verhindern wollen, dass der Westen von den gut ausgebildeten Ostdeutschen profitierte.

2. Warum fiel die Mauer vor 15 Jahren?

Egal ob Ost oder West, Realschule oder Gymnasium: Kaum ein Schüler erwähnt an dieser Stelle die Bedeutung der Bürgerrechtler oder die Auflösungstendenzen im ganzen Ostblock. Ein Realschüler aus Friedrichshain vermutet als Grund des Mauerfalls einen „Streit zwischen Erich Honecker und Willy Brandt“. Die meisten Gymnasiasten im Osten denken, dass es an Günter Schabowski lag, der sich im Fernsehen „verplappert“ habe.

West-Schüler meinen das Gleiche, erinnern sich aber nicht an Schabowskis Namen. Für sie war es „ein unbekannter Politiker, der sich im Fernsehen versprochen hat“ oder „ein Fernsehansager“. Nach dem Versprecher jedenfalls, so denken viele in West und Ost, hätten die Bürger die Mauer gestürmt und niedergerissen.

Etliche Gymnasiasten aus Schöneberg schreiben vage von Demonstrationen, Aufständen und allgemeiner Unzufriedenheit, die zum Mauerfall geführt hätten. Einige geben an, dass die DDR schlecht gewirtschaftet habe, deshalb „pleite war“ und der „Sozialismus zusammenbrach“ und dass die Menschen Reisefreiheit wollten. Ein Schüler schreibt: „Die Mauer fiel, weil sich Verwandte endlich wiedersehen wollten.“

3. Was passierte am 3. Oktober 1990?

Die große Mehrheit der befragten Schüler weiß, dass an diesem Datum Deutschland wiedervereinigt wurde. Rund die Hälfte der Realschüler im Westen denkt, dass an diesem Tag die Mauer fiel.

4. Wie hieß die führende Partei der DDR?

Rund 100 der 130 Schüler geben korrekt die SED an. Einige nannten die KPD, wenige die PDS, die CDU oder die SPD. Manche lösten „SED“ als „Soziale Einheit Deutschlands“ auf.

5. Nenne zwei wichtige DDR-Politiker

Nur ein Realschüler im Osten und fünf im Westen konnten zwei DDR-Politiker nennen, neben Erich Honecker meist Egon Krenz. Etliche halten bundesdeutsche Politiker wie Helmut Kohl, Willy Brandt, Helmut Schmidt oder Gustav Heinemann für DDR-Größen. Auch Michail Gorbatschow oder Karl Liebknecht werden genannt. Westberliner Jugendliche rechnen Stalin der DDR zu. Ein Lichterfelder Realschüler schreibt: „In der DDR gab es keine wichtigen Politiker. Sie waren alle Marionetten Russlands.“ Die Pankower Gymnasiasten konnten die Frage fast ausnahmslos richtig beantworten. Auch sie haben meist die Kombination Honecker/Krenz im Kopf.

6. Was passierte am 17. Juni 1953 ?

Hier zeigt sich ein gravierender Unterschied zwischen Gymnasiasten und Realschülern. 80 Prozent aller Gymnasiasten, aber nur sehr wenige Realschüler wissen, dass es an diesem Tag einen „Arbeiteraufstand“ gab. Lediglich acht Realschüler im Osten haben gehört, dass es sich um einen „Arbeiteraufstand“ handelte, der von sowjetischen Soldaten „blutig“ niedergeschlagen wurde. Die anderen denken an das Ende der „russischen Blockade“. Einige Male taucht die Formulierung „Rebellenaufstand“ und „Blutbad“ auf. In Lichterfelde gehen viele Realschüler davon aus, dass an diesem Tag die Inflation oder der Mauerbau begonnen hat. Einige denken, es hätte einen Aufstand auf der Straße des 17. Juni gegeben oder am Brandenburger Tor.

7. Was unterschied die DDR von der Bundesrepublik?

Bei den Antworten zeigen sich keine großen Unterschiede zwischen den Schüler in Ost- oder Westberlin. Entscheidend ist eher, ob sie aufs Gymnasium oder die Realschule gehen. Den Realschülern fallen überwiegend die unterschiedlichen Währungen, Nationalhymnen, Reisemöglichkeiten ein oder dass man in der DDR „10 Jahre auf ein Auto warten musste“. Auch dass die Gesetze in der DDR „strenger“ waren und es Stasi-Spione gab, wussten viele. Die Gymnasiasten benennen die Unterschiede der politischen Systeme, Kommunismus/Sozialismus im Osten, Kapitalismus/Demokratie im Westen.

8. Welche Bundesländer gehörten zur DDR?

90 Prozent aller Gymnasiasten wissen Bescheid und können alle fünf Bundesländer aufzählen, die früher zur DDR gehörten. Im Osten weiß nur ein Drittel der Realschüler die richtige Antwort, im Westen nur zwei Realschüler. Einige schlagen Bayern der DDR zu oder verwechseln Mecklenburg-Vorpommern mit Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Viele nennen nur Ost-Berlin.

9. Was bedeutet Planwirtschaft ?

Vielleicht das erstaunlichste Ergebnis der Umfrage: Im Westen wissen die Schüler über diesen Punkt besser Bescheid als im Osten. Die Schöneberger Gymnasiasten antworten, dass die Wirtschaft von der Regierung gelenkt wurde, dass die Fabriken dem Staat gehörten und dass es keinen Privatbesitz gab. Einige assoziieren mit Planwirtschaft große Felder, auf denen Bauern arbeiten. Im Osten weiß nur ein Bruchteil der Schüler in etwa die richtige Antwort. Unter etlichen Ostberliner Gymnasiasten hat sich folgende Definition festgesetzt: „Es wurde nur so viel produziert, wie benötigt wurde“.

10. Gab es etwas Positives in der DDR? Oder etwas, das man hätte erhalten sollen?

Nur wenigen fällt gar nichts Positives ein. Die überwiegende Mehrheit der Schüler in Ost und West nennt die sicheren Arbeitsplätze, die kostenlosen Aktivitäten wie etwa Ferienlager, den zwischenmenschlichen Zusammenhalt, die Schulbildung und die Kinderbetreuung, die Sportförderung und die niedrigen Mieten. Außerdem habe es kein Hartz IV gegeben. Die Menschen hatten zwar weniger Geld, „aber sie lernten, mit dem zufrieden zu sein, was sie hatten“, schreibt eine Westberliner Schülerin. Einer anderen Schülerin gefiel an der DDR, „dass man damals nicht machen konnte, was man wollte, damals gab es noch einen gewissen Respekt“.

Ein Jugendlicher im Osten lobt die Idee, den Kommunismus aufzubauen, aber leider sei die Ausführung „scheiße“ gewesen. Einem anderen fällt nur ein, dass seine Mutter die DDR-Lakritze „viel geschmeidiger“ fand. Das Sandmännchen und die Spreewaldgurken liegen offenbar auch vielen am Herzen.

Die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur analysiert zurzeit die Darstellung der DDR-Geschichte in deutschen Schulbüchern. Erste kritische Zwischenergebnisse unter www.stiftung-aufarbeitung.de.

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