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© doris spiekermann-klaas

Panorama: Ihr da drüben!

Unsere Autoren Ric Graf und Nana Heymann erinnern sich an die Zeit, als die Berliner Mauer noch stand.

JUNGE AUS WEST-BERLIN

Ost oder West – so richtig konnte ich mit diesen Begriffen nichts anfangen. Ich war ja auch erst fünf, als die Mauer fiel. Aber ich wusste, dass es auf der anderen Seite der Mauer auch Leute gibt, die sogar die gleiche Sprache sprechen. Und dann wusste ich noch, dass die da drüben viel weniger hatten und nur so komische Autos fuhren, die ich mir noch nicht mal als Matchbox-Version gewünscht hätte.

Ich wusste das, weil mir mein Vater immer viel erzählte. Er und meine Mutter flohen Anfang der 80er Jahre nach West-Berlin. Nicht über die Mauer, sondern über die osteuropäischen Grenzen nach Österreich und Bayern. Ich wurde 1985 in Kreuzberg, ganz in der Nähe der Mauer, geboren. Meine Eltern durften nicht mehr zurück in die DDR – als Flüchtlinge. Ich allerdings durfte als Kind meine Oma in Brandenburg besuchen, musste mit meinem riesig wirkenden Kinderausweis über die Grenze. Da sah ich dann auch die fahrbaren Kisten aus Pappe und die farblos wirkenden Kaufhallen.

Mein Vater und ich waren oft an der Mauer. Am Potsdamer Platz gab es einen Ausguck in den Osten. Den bevölkerten meist Schülergruppen aus Westdeutschland, die einmal die „Ossis“ sehen wollten. Mein Vater regte sich immer über die Grenztruppen und die DDR als solche auf. Ich erinnere mich noch bis heute an den Ausguck vom Potsdamer Platz, an den Stacheldraht und die Wachtruppen und Türme auf Ostseite. Als Kind findet man das alles ungemein spannend, ohne eigentlich zu wissen, worum es geht und was verdammt noch mal nun Ost und West ist. Und warum West-Berlin dann noch mal vom Osten umgeben ist. Und das obwohl es doch auch im Osten liegt.

Immer wenn ich zu meiner Oma fuhr, musste ich ans Waterloo-Ufer in Kreuzberg. Dort vergaben die DDR-Behörden Passierscheine an West-Berliner. Vor der Baracke, die es heute noch gibt, standen immer diese merkwürdigen pappartigen Busse, die etwas nach VW-Bus und etwas nach Wartburg aussahen. Da wir in der Nähe wohnten, sehe ich heute noch die abfahrenden Busse mit DDR-Behördlern in meinem Kopf. Ich wusste, dass ich diesen Schein brauche, um meine Oma besuchen zu können. Warum, wusste ich nicht.

Am 9. November 1989 zog ich mit meinen Eltern um, wir haben sozusagen den Fall der Berliner Mauer verschlafen. Mein Vater wunderte sich am Abend nur über die viele Trabis, die durch Kreuzberg kurvten. Wir erfuhren erst am nächsten Tag davon. Doch ich verstand noch immer nicht, worum es in diesem ganzen Konflikt ging und warum auf einmal die große Party abging. Dafür war ich zu jung. Und die Veränderung begriff ich auch nicht. Als ich nach der Wende zu meiner Oma nach Brandenburg fuhr, sah immer noch alles genauso aus: etwas grau, die Supermärkte hießen immer noch Kaufhallen und, ach ja, die Autos waren immer noch dieselben. Und als Matchbox-Variante hätte ich sie immer noch nicht gegen einen Porsche eingetauscht.

MÄDCHEN AUS OST-BERLIN

Sie waren immer da. Morgens, wenn ich zur Schule ging, nachmittags, wenn ich wieder nach Hause kam, und auch sonnabends, wenn ich mit meinem Vater beim Bäcker nach frischen Brötchen anstand. Immer standen sie da, egal, ob nun gerade die Sonne schien oder ob es regnete. Auf der Aussichtsplattform auf der anderen Seite der Mauer drängten sich stets Dutzende Menschen: Männer, Frauen, Kinder, Jugendliche. Sie blickten von dem grauen Turm aus zu uns rüber. Manche von ihnen winkten, andere riefen etwas, aber das Gerufene kam nur in unverständlichen Wortfetzen bei uns an.

Mitte der 80er Jahre zogen meine Eltern an den Zionskirchplatz in Mitte. Die Mauer war von unserem Wohnhaus nur wenige hundert Meter entfernt. Anfangs wunderte ich mich noch über die lange Betonwand, die da plötzlich die Straße versperrte. Über die zugemauerten Fenster der letzten Häuserreihe. Über die Volkspolizisten, die emotionslos auf der Straße auf- und abgingen. All das hatte etwas Gespenstisches. Komisch: Irgendwann hatte ich mich daran gewöhnt, mich nicht weiter gefragt, was das soll. Ein bisschen wie im Film „Truman Show“, wo Schauspieler Jim Carey auch nicht zu weit aufs Meer hinausfahren darf, weil er sonst auf das Ende der Filmkulisse gestoßen wäre. Nur, dass ich mich nicht im Film befand sondern im wahren Leben.

Dass in diesem Leben einiges nicht richtig lief, wurde mir erst im Nachhinein bewusst. Heute frage ich mich: Warum erst so spät? Aber hey – ich kam gerade erst in die Schule und war viel zu sehr damit beschäftigt, lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Deshalb machte ich mir keine Gedanken darüber, warum ich den Bus zur Schule nehmen musste, obwohl die U-Bahn doch viel schneller gewesen wäre. Der Bahnhof der Linie U8 war auf Ost-Berliner Seite ab Bernauer Straße versperrt. Ich nahm das einfach hin.

War ich vielleicht zu naiv? Bevor sich mir diese Frage überhaupt stellte, fiel die Mauer auch schon, ich erfuhr davon aus dem Fernsehen. Als ich dann das erste Mal die Brunnenstraße entlanglief Richtung Westen, keine Mauer mehr im Weg stand und auch keine Volkspolizisten mehr patrouillierten, da war alles … ziemlich unspektakulär. Die Häuser sahen nicht wesentlich anders aus als auf der Ostseite der Mauer und auch die Menschen nicht. Der „imperialistische Klassenfeind“, vor dem uns unsere Lehrer immer gewarnt hatten, begegnete mir jedenfalls sehr friedfertig, fast gleichgültig. Und auch am bunt beleuchteten Ku’damm gaben sich mir die ausgebeuteten Lohnarbeiter, die mir mein Jungendlexikon versprach, nicht zu erkennen.

Heute wohne ich immer noch am Zionskirchplatz, und noch immer stehen auf der Aussichtsplattform an der Bernauer Straße täglich Menschen, nur heute ist der Turm Teil der Mauergedenkstätte. Irgendwann bin ich da selbst mal hochgeklettert. Ich blieb eine Weile oben, sah in der Ferne mein Wohnhaus und den Bäcker, bei dem ich sonnabends mit meinem Vater immer Brötchen holte. Der Perspektivwechsel war ein komisches Gefühl.

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