zum Hauptinhalt

Panorama: In Holzschuhen durch den Schnee

Unsere Leserin Erika Bluth hat Strapazen ertragen und das Jammern verlernt

Als Flüchtlinge kamen wir aus Ostpreußen in ein Dorf in der Nähe von Braunschweig. Es ist das Jahr 1948, ich bin zwölf Jahre alt. Meine Schwester und ich gehen in Braunschweig in die Oberschule. Vom Bahnhof fährt mittags kein Bus in unser Dorf, wir gehen die drei Kilometer zu Fuß. Im Sommer schützen uns die Bäume vor der schlimmsten Hitze. Bei Regen weichen wir bis auf die Haut durch, denn Kleidung und Schuhe sind unzureichend. Im Winter stapfe ich in Muttis mit Holz besohlten ausgetragenen Halbschuhen die schneebedeckte Chaussee entlang.

Zwischendurch mache ich mir und den anderen Kindern das Vergnügen, mich am Feldrand der Länge nach auf den Rücken zu werfen, die Arme auszubreiten, sie langsam vom Kopf bis zu den Schenkeln immer wieder in die unversehrte weiße Fläche zu schlagen, bis ich den fliegenden Adler im Schnee abgebildet habe. Wenn es stürmt und hagelt und die eisigen Kügelchen mir ins Gesicht geblasen werden, bemitleidet mich keiner. Im Gegenteil: Dann fühle ich mich tapfer, stark und stolz, dass ich Wind und Wetter trotze.

50 Jahre später bin ich dankbar, wenn es regnet und mir dadurch eine Pause gegeben wird, um meine steifen Fingerknöchel und meinen schmerzenden Rücken auszuruhen und das Ziehen im Nacken und in den Schultern abklingen zu lassen. Ich habe mir in den Kopf gesetzt, einen 104 Meter langen Zaun zu streichen und arbeite bei gutem Wetter drei Stunden täglich, im Frühling, im Sommer und im Herbst. Der Zaun führt um das Haus, in dem ich wohne, und um den Garten. Er ist verrostet und alt. Ich muss ihn abschleifen und zwei Mal neu streichen.

Fünf Jahre habe ich dafür gebraucht, wegen meiner kaputten Knie – und habe es geschafft. Das ist eine dieser Geschichten, die nicht passiert wären in meinem Leben, wenn ich nicht auf dem täglichen Schulweg und in der Schule diese Widerstandsfähigkeit geübt hätte. Nicht jammern, nicht aufgeben, sondern sich durchkämpfen.

Aufgezeichnet von Claudia Keller. Erika Bluth ist 68 Jahre alt und hat als Gemeindehelferin, Krankenschwester und Lehrerin gearbeitet. In Kürze erscheint unter dem Pseudonym Antje Arbor ihr Buch „Die Zaunkönigin“, in dem sie Erinnerungen an ihre Kindheit aufgeschrieben hat.

Liebe Leser, wir möchten auch Ihre Schulgeschichte aufschreiben.

Erzählen Sie sie uns:

schule@tagesspiegel.de

-

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false