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Max testet seine Killerreflexe.

© privat

Jugend denkt über den Tod nach: Der Killer auf der Couch

Macht "Tatort" gucken Menschen zu Killern? Max, 18 Jahre, kennt sich zwar mit Gewaltfantasien aus - aber das glaubt er dann doch nicht.

Mein Nachbar tritt andauernd mein geliebtes Schuhregal um, weil es seiner Meinung nach im Weg steht und weil er denkt, ich wüsste, dass er es war. Letzte Nacht hat er wieder heimlich zugeschlagen. Nach einem bestialischen Aufschrei sammele ich in stundenlanger Arbeit meine Schätzchen wieder zusammen, sortiere sie nach Paaren und ordne sie liebevoll in das wacklige Regal ein, ohne dass sie aneinander drücken. An meinen neuen Vans ist ein kackbrauner Fleck aufgetaucht, der zuvor wochenlang unheilvoll den Flurboden verunstaltet hatte und mich nun von dem weißen Kunstleder aus hämisch angrinst. Der Schnürsenkel von meinem linken Winterstiefel hat die Metallspitze verloren und beginnt langsam auszufransen.

Das verlangt Blutrache! Ich werde den diabolischen - wahrscheinlich auch noch Ex-Stasi Spitzel - Nachbarn Nolte ermorden müssen. Dass ich bei der Tat Handschuhe trage, mir ein Alibi für den Tatzeitpunkt zulege (eine angebliche Verabredung mit einer bestochenen Prostituierten macht sich immer gut) und mich die nächsten Wochen betont freundlich Herrn Nolte gegenüber benehme, sind für einen geübten Tatort-Gucker wie mich Selbstverständlichkeiten.

Doch bin ich wirklich so abgeklärt? Seit ich meine Freundlichkeitsoffensive gegen den Nachbarn gestartet habe, stubst er mein Regal nur noch halbherzig an. Auch bin ich mir nicht sicher, ob ich physisch dazu in der Lage bin, so lang ein Kissen über sein Gesicht zu stülpen, dass er das Zeitliche segnet. Ich will keine Kissenschlacht mit ihm anfangen, ich bin ein eiskalter Killer!

Aber hat Nolte Enkelkinder oder irgendjemanden, der ihn liebt? Ernährt er über Spenden Hunderte von hungernden Kindern in Afrika, die ich durch meine Tat mitermorden würde? Wie ich es auch drehe und wende, scheint es, dass gewalttätiges Krimi-Fernsehen zwar bildet, es aber dennoch auf die Praxis ankommt. Mordfantasien lassen sich nur auf dem heimischen Sofa voll sabbernder Lust ausleben: das Blut hilfloser Opfer perfekt geplanter Morde spritzt in die Kamera, unterlegt von antreibender Musik. Wenn man aber dem Objekt seiner Mordgier gegenübersteht, in Jogginghosen, Bierchen in der Hand und Chipskrümel am Kinn, dann fühlt man sich unglaublich schnell wieder von der  gewaltfreien Realität eingeholt.

Killer gucken vielleicht Fernsehen, Killer machen sich vielleicht sogar Notizen dabei, aber Killer haben auch insoweit ein Rad ab, als sie ihre Pläne in die Tat umsetzten, und das unterscheidet sie von uns Medien-Normalkonsumenten. Denken ist nicht gleich Machen. Mehr Gewalt in den Medien lässt vielleicht die sadistischen Fantasien einiger Mitbürger überkochen, zieht sie aber noch lange nicht aus ihrer Position als vernünftige Menschen heraus.

Ich werde bei Nolte Gnade vor Recht walten lassen. Ich habe mir eh gestern das Handgelenk verstaucht.

Max Deibert

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