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Panorama: Lieber rechnen als sprechen

Schriftsteller Michael Wildenhain erinnert sich

Der Klassenlehrer hatte uns eben erläutert, welche Lehrer uns im neuen Schuljahr unterrichten würden, nun sah er auf die Uhr und murmelte: „Was soll’s. Lohnt nicht mehr – was habt ihr in den Ferien gemacht?“ Er nickte mir zu. Er wusste, ich würde mich nicht melden. Ich war das Gegenteil von Jallasch, meinem Banknachbarn. „Nun erzähl mal.“ Ich schaute auf meine Hände und zögerte und wünschte mir, ich säße vor einer Klassenarbeit, am besten in Mathematik. Es gibt in einer Mathematikarbeit nur eine richtige Lösung, und man muss nicht reden, sondern rechnen.

Während ich merkte, wie das Schweigen meiner Mitschüler die Stille im Klassenraum veränderte, fiel mir ein, wie ich mit meinen Eltern am ersten Tag der Osterferien einen Ausflug unternommen hatte. „Wir begrüßen den Frühling“, hatte mein Vater gemeint. Und ich sagte: „Ich war mit meinen Eltern im Zoologischen Garten.“ An der Art, wie einige lachten, konnte ich die Genugtuung spüren, die sie empfunden haben mussten, als der Klassenlehrer gerade mich aufgefordert hatte, etwas zu erzählen.

Während ich fühlte, wie meine Hände kalt wurden, fügte ich hinzu: „Im Zoologischen Garten, um“ – nur mühsam gelang es der Klasse, sich zu beherrschen – „den Frühling zu begrüßen.“ Ich genoss den Augenblick der Ruhe, die Verblüffung meiner Mitschüler. „Den Frühling zu begrüßen?“ Der Klassenlehrer musterte mich ungläubig. Ich war ihm dankbar, als er das Lachen unterband, indem er fragte: „Und welche Tiere habt ihr gesehen?“ Tiere. Warum Tiere? Ich dachte an das Pflanzenhaus, an Orchideen, tropische Gewächse, an fleischfressende Blüten, an Knospen, erste Blätter, ich dachte an einen Teich mit einer Brücke – „Goldfische“, sagte ich. Ich empfand die neuerliche Stille als Bedrohung. „Goldfische.“

Ich merkte, wie mich Jallasch ansah und sein Gesicht, als wolle er mir Zeichen geben, zu einer Grimasse verzog, während er mit den Lippen ein Wort formte. Verzweifelt und ohne zu verstehen starrte ich Jallasch an. „Goldfische“, sagte ich leise. „Im Zoo?“ Der Klassenlehrer runzelte die Brauen, indem er mal die linke, mal die rechte hob: „Du meinst...?“ „Goldfische. Viele.“ Und während Jallasch wisperte: „Du warst in diesem anderen Dings, dem mit den Pflanzen!“ und während ich darauf wartete, dass das Lachen der Klasse über mich hinweggehen würde, bis ich mit meinen kalten Händen und dem glühenden Gesicht darin verschwunden wäre, wiederholte ich: „Goldfische. Im Zoologischen Garten. Einen ganzen Teich.“

Michael Wildenhain ist 46 Jahre alt und Schriftsteller in Berlin. Er ist bekannt geworden durch den Roman „Die kalte Haut der Stadt.“ Morgen erscheint sein neuer Roman „Russisch Brot“ (Verlag Klett-Cotta), der eine Familiengeschichte zwischen Ost- und West-Berlin erzählt. Am Freitag liest er in der Buchhandlung Seitenblick, Falkenplatz 9a, Konradshöhe, (Anmeld. Tel. 431 37 08), am 4. März im Literarischen Colloquium am Wannsee.

Michael Wildenhain (46) ist in Schöneberg zur Schule gegangen. Er hasste es, vor der Klasse zu sprechen. Die Episode, an die er sich erinnert, fand in der vierten Klasse statt.

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