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Wald

© David Heerde

Natur: Ich krieg ’nen Vogel

Wie kommt ein Großstadtmensch in der Natur klar? Unsere Autorin hat es im Selbstversuch probiert.

Immer an den Eulenblick denken. Und lauschen. Ohren offen, Mund zu, dafür die Nase ganz weit auf, und den Duft von Gräsern und Blaubeeren einsaugen. So einfach ist das gar nicht. Mir dröhnt noch der Kopf von der Musik und dem Rauch gestern Abend. Da ist es schwer, die gesamte Umgebung im Blick zu haben, so wie der Uhu. Und lauschen? Das ist auch nicht so einfach. Denn wirklich nur zu hören, und nicht in Gedanken eine To-Do-Liste durchzugehen, die nächsten Tage oder den Supermarkteinkauf am Abend zu planen, das ist unser Kopf nicht mehr gewöhnt. Und doch – nach 20 Minuten beginnt es, zu funktionieren.

Ich sitze hier, mitten auf einer Waldlichtung im Schlaubetal, hinter Frankfurt an der Oder, und entdecke eine ganz neue Welt. Ist da nicht hinten rechts ein Hämmern zu hören? Und das Getriller vor mir? Ist das nicht eine Unterhaltung? Und wer ist plötzlich so aufgeschreckt schräg hinten links? Bis vor einer Stunde hätte mich das nicht interessiert. Da zwitschern eben Vögel, hätte ich gedacht.

Aber jetzt weiß ich: zwitschern ist nicht gleich zwitschern. Es kann ein Schrei nach Futter, die Warnung vor einem eingedrungenen Feind oder auch eine einfache Unterhaltung über das beste Futter in der Umgebung sein, wenn wir meinen, das sei bloß Gezwitscher.

Worin die Unterschiede zwischen Warn- und Balzruf, zwischen Hunger und Smalltalk bestehen, das haben wir vorhin geübt. Wir – das sind: Mehrere Mädchen mit Dreadlocks, Holzohrringen und Fußkettchen um die 18 Jahre, zwei Jungs, die mit ihren Eltern da sind und ein Pärchen in den Dreißigern. Sie alle verbringen nun schon ein zweites Wochenende zusammen. Wildnistraining heißt der Kurs, den der Bund für Umwelt und Naturschutz anbietet. Er soll das Bewusstsein der Teilnehmer für die Natur- und Pflanzenwelt erweitern. Das Training vermittelt Dinge, die man in der Stadt nicht erfahren kann.

Mit den zwölf anderen sitze ich am Samstagmorgen im Kreis, und wir rätseln, zu wem die Überreste gehören, die auf dem roten Baumwolltuch zwischen uns liegen. 20 verschiedene Federn hat Trainingsleiterin Annika auf einem roten Tuch ausgebreitet. Alle sind sie zwischen zehn und 20 Zentimetern lang, und die meisten gehörten einem einzelnen Vogel, aber drei fremde Federn sind auch darunter. Sagt Annika. Dass es so ist, erkennen nur wenige von uns sofort. Neugierig beugen wir uns alle übers Tuch. Bussard? Nein, dafür sind die Federn zu klein, sagt ein Junge mit Dreads. Zilpzalp? Dafür sind die Federn zu groß. Mönchsgeier? Auch nicht. „Wir basteln uns einen Eichelhäher!“, witzelt einer, und zumindest mit der Vogelart hat er Recht.

Mit solch einer Geschichte beginnt sie jedes Wildnistraining. Im städtischen Leben ist sie Sozialarbeiterin. Und nebenher macht sie gerade ihre zweite Ausbildung zur Wildnispädagogin, davor war sie schon auf der „Wildnisschule Wildniswissen“ und für drei Wochen bei einem Fachmann für Wildnispädagogik in den USA. An diesem Wochenende erklärt sie uns, wie wir anderen jungen Menschen die Natur nahe bringen können. Denn das ist gar nicht so einfach, und Natur heißt eben nicht nur rauschende Blätter, wilde Bäche und fliegende Adler, sondern dazu gehört neben der Aufmerksamkeit vor allem: Geduld. Zum Beispiel um die unzähligen Mücken auszuhalten, die uns in der Kniekehle, unter dem Ohr oder in ein Stück freie Rückenhaut stechen. Oder um ruhig sitzen zu bleiben auf der Wiese neben dem Bach, während gerade eine andere Teilnehmerin ein Referat darüber hält, dass Zecken gern in Schenkelhöhe im Gras sitzen und manche der von ihnen übertragbaren Krankheiten nicht heilbar sind.

Doch damit umzugehen, bringt Annika uns bei. Gegen die Mücken hilft das Schleichspiel. Dabei haben sich beim letzten Mal alle im Feld versteckt und den Fuchsgang geübt. Das ist quasi der Eulenblick für die Füße. Auf allen vieren kriecht man durchs Feld, aber bevor man einen Fuß aufsetzt, fühlt man erst vor, ob man vielleicht beim Auftreten einen Ast zerbricht und der laut knackt. Denn das würde einem Fuchs nicht passieren. Dadurch kann man sehr leise laufen. Wenn dann ein Teil der Gruppe zu Füchsen wird und die anderen Teilnehmer – grasende Rehe – zu überraschen versucht, ist das wichtig. Und weil man ganz leise sein muss, um nicht entdeckt zu werden, muss man auch die Mücken aushalten. Und lernt nach dem 20. Stich: so schlimm ist das gar nicht.

Alles also nicht so wild in der Wildnis, wenn man nur lernt, mit Vorsicht die Dinge zu tun. Das gilt fürs Spurensuchen, das am Sonntag dran ist, wie fürs Feuermachen. Man baut sich aus Materialien im Wald einen Feuerbohrer, dabei wird mit einem Strick so lange an Holz gerieben, bis der heiße Abrieb als Glut für ein Feuer verwendet werden kann.

Das nächste Mal sind die Pflanzen dran. Wie man mit ihnen achtsam umgeht. Wofür man sie verwenden kann. Das alles will Annika erklären. Ihr geht es darum, die Teilnehmer auch für den Gang durch die Stadt zu schulen. „Wenn ich weiß, wie laut es sein kann, wenn ich auftrete – dann laufe ich auch in der Wohnung automatisch leiser und bewusster.“

Wieder dreht sich alles um Wahrnehmung. Wie beim Lernen der Vogelsprachen. Um sich davon eine konkrete Vorstellung zu machen, haben wir, bevor wir in den Wald gegangen sind, die Geräusche der Vögel selbst geübt. Und hinterher alles auf einer großen Karte eingezeichnet. Dadurch, dass unsere Hörbereiche sich überschnitten haben, haben wir so eine eindrucksvolle Karte des Waldgezwitschers zusammengestellt.

Gemeinsam überlegen, wie es einem geht, da draußen, und mit all den neuen Entdeckungen, das ist ein wichtiger Teil der Trainings. Und so sitzen wir im Kreis, und wer den Redestock hat, erzählt. Nicht nur über die Vogelarten und die leckeren Blaubeeren im Wald. Sondern auch über die Ruhe, die dort herrscht. Denn einfach dasitzen, zuschauen und -hören, darauf kommt es vor allem an, wenn man die Natur verstehen will, glaubt Annika.

Stille. Neben all dem Fachwissen über Zilpzalps und Fuchsgang ist sie das Wichtigste, was ich mit zurück in die Stadt nehme. Und so sitze ich auf meinem Balkon, schaue in den Hinterhof, übe den Eulenblick an der großen efeubewachsenen Wand, versuche, meine 27 Mückenstiche zu ignorieren und über gar nichts nachzudenken. Was pfeift dahinten so hoch und lang? Leider nur der Wasserkessel der Nachbarn. Das kann ich wahrscheinlich besser von einer Kaffeemaschine unterscheiden, als die Krähe vom Spatz. Einfach nur zuzuhören tut trotzdem gut.

Lea Hampel

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