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FIFA WM 2006: Deutsche Nationalmannschaft auf der Fan-Meile Berlin

© ddp

Ossis und Wessis: Klar sind wir ein Volk!

Alle Menschen unter 20 sind nach der Wende geboren. Kann das Gerede von Ossis und Wessis mal aufhören? Die Jugendlichen der Unter-18-Konferenz haben genug von den alten Vorurteilen.

Alte Flunkereien

20 Jahre Mauerfall – an diesem Thema kommt auch die Jugendredaktion von Unter 18 nicht vorbei. Es ging hoch her in der Konferenz. Die einen erzählten vom Leben der Eltern ohne Bananen, die anderen waren genervt von Vorurteilen, es wurde über Neonazis geredet und über strenge Lehrer aus dem ehemaligen Osten. Auch um die eigene Herkunft ging es – wie die Familien damals lebten, was für sie gut war und was schlecht, wie sie den Mauerfall erlebten und wie heute ihr Alltag in unserer ehemals geteilten Stadt verläuft.

Schließlich überlegten wir, welche Vorurteile Wessis und Ossis gegenüber einander haben. Es ist schon komisch, dass sich junge Berliner bemühen, alte Flunkereien über die Leute jenseits der Mauer abzustreiten. Denn eigentlich sollte uns das alles kalt lassen, weil wir uns selbst nicht in West- oder Ost-Berliner unterteilen und von Leuten genervt sind, die nach der Wende geboren sind und es dennoch tun. Stattdessen freuen wir uns, dass wir die ganze Stadt zum Leben haben. 

Caroline Stelzer, 17 Jahre


Vorurteile

Während der Wessi den Ossi für faul, dreist und dumm hält, denkt dieser, der Wessi sei arrogant, spießig und könne sich gut verkaufen. Gleichzeitig sind beide der festen Überzeugung, im Gegensatz zum jeweils anderen keinerlei Vorurteile zu haben.

In Internetforen tauschen sich Leute, die teilweise noch nicht einmal die DDR oder die alte BRD miterlebt haben dürften, darüber aus, wie vorurteilsfrei sie selber sind, während sie doch das eine oder andere „aber“ einfügen: Wir haben uns ja alle so schrecklich lieb, ABER: Die Ossis haben nun mal ein fest verankertes Misstrauen gegenüber der Demokratie, sprechen ein unverständliches Sächsisch, und es ist ja wohl kein Vorurteil, sondern allgemein bekannt, dass der Wessi nichts über die DDR weiß und nach dem Mauerbau von den Besatzern nur noch verwöhnt wurde. In den meisten Fällen werfen sich die Verfasser solcher Texte dann peinlicherweise auch noch genau dieselben Sachen vor.

Wessis wie Ossis haben anscheinend von der Wende profitiert. Da ist es wirklich sehr erstaunlich, dass wir nicht nur nicht alle glücklich und zufrieden sind, sondern sich knapp ein Fünftel der Bevölkerung auf beiden Seiten der ehemaligen Grenze die Mauer zurückwünscht. Besonders absurd finde ich diese Vorurteile, weil ich genau weiß, dass durch die Mauer zahlreiche Menschen von ihren Freunden und Familien getrennt wurden. Diejenigen, die heute behaupten, im Osten wäre alles viel besser gewesen, sind vermutlich dieselben Leute, die sich früher nur so danach verzehrt haben, in den „Goldenen Westen“ zu kommen, genau wie die Westler, die die Ansicht vertreten, im Osten gebe es nur ausländerfeindliche Arbeitslose, wahrscheinlich zu Hause sitzen und ihre Vorurteile gegen den nächsten Nachbarn pflegen.

Friederike Sander, 16 Jahre


Endlich aufarbeiten

Die Regionalbahn Leipzig–Berlin ist überfüllt, um mich herum lauter Jugendliche auf der Rückfahrt von einer Computerspielmesse. Die Stimmung ist ausgelassen, doch plötzlich Pöbeleien: „Soll ich euch Bananen schicken?“ – „Halt die Klappe, Wessi!“ Alles Wendekinder wie ich, aber sie haben nichts Besseres zu tun, als sich wegen ihrer Herkunft zu provozieren.

Nur mit Stacheldraht und Sprengfallen konnte die Spaltung des deutschen Volkes durchgesetzt werden. Doch heute, 20 Jahre nach dem Fall der Grenze, scheint sich ein kollektives Gedächtnis an die „gute alte Zeit“ zu klammern wie das Kleinkind an den Schnuller. Es ist verständlich, dass ehemalige DDR-Bürger schlucken müssen, wenn ihr einstiger Nationalstaat als Unrechtsstaat bezeichnet wird. Schließlich haben sie einen Großteil ihres Lebens dort verbracht, auch wenn die Fakten eindeutig sind: fehlende Presse- und Meinungsfreiheit, Wahlbetrug, Bespitzelung der Bürger. Wenn aber Jugendliche heute um die Vorteile von „Ost“ und „West“ streiten, anstatt am 3. Oktober die Wiedervereinigung zu feiern, fehlt eindeutig Aufklärung – und zwar auf beiden Seiten!

Den Westdeutschen muss endlich bewusst werden, dass die Aufbauhilfe keine Verschwendung, sondern gerecht war. Schließlich bekam ihr Teil von Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg massive Unterstützung durch den Marshallplan, während die Ostzone von der Sowjetunion ausgeschlachtet wurde. Die Ostdeutschen müssen akzeptieren, dass sie in einer Diktatur lebten. Als in diesem Jahr 49 Prozent der Ostdeutschen aussagten, die DDR habe „mehr gute als schlechte Seiten“ gehabt, war das ein Schlag ins Gesicht für die Angehörigen der Maueropfer und alle Freiheitskämpfer. Natürlich gab es auch gute Seiten an der DDR, zum Beispiel die Arbeitsplatzsicherheit. Aber die Unfreiheit wiegt schwerer als alle Vorteile: „Wer seine Freiheit für Sicherheit aufgibt, verdient weder das eine noch das andere“, sagte Benjamin Franklin, und damit hatte er recht.

1968 waren es die Schüler und Studenten, die sich für die überfällige Auseinandersetzung mit der Nazidiktatur starkmachten. Auf wen wartet meine Generation, um endlich die deutsch-deutsche Geschichte aufzuarbeiten?

Vincent Venus, 19 Jahre



Grenzen weg!

Sachsen? Ostdeutschland. Baden-Württemberg? Westdeutschland. Berlin? Oase in Ostdeutschland. Ich habe meine Oma gefragt, was „Oase in Ostdeutschland“ bedeuten soll. Ich dachte, wir seien in Deutschland, aber heute weiß ich es besser: Die Mauer ist immer noch da, wenn Politiker darüber diskutieren, ob die Arbeit in Ostdeutschland genauso bezahlt werden soll wie im Westen. Wenn Lehrer glauben, die ostdeutsche Sportlerin am Gesicht erkennen zu können. Wenn Großmütter etwas von der Oase Berlin erzählen.

Es nervt mich, dass alle von Einheit reden und es trotzdem nicht lassen können, über die öde Landschaft in Brandenburg zu schimpfen. Dass sie Grenzen ziehen und alte Grenzen wiedererrichten. Wie kann es sein, dass sie dann auch noch uns, die junge Generation, die keine Teilung miterlebt hat, dazu bringen, genauso zu reden?

Man muss es ja sogar als Fortschritt ansehen, eine ostdeutsche Bundeskanzlerin zu haben. Die Amerikaner wählen ihren Schwarzen, wir unsere Ossifrau. Natürlich muss man auch die Realität sehen. Es gibt Bedarf im Osten – aber den kann man doch nicht getrennt vom Westen betrachten!

Wie es auch geht, haben wir schon erfahren, bei der WM 2006. Kein Wessi hat die drei Elfmeter gehalten, sondern Jens Lehmann, kein Ossi hat unsere Nationalmannschaft geführt, sondern Michael Ballack. Spätestens seit damals sollte außer Frage stehen: Sachsen? Deutschland. Baden- Württemberg? Deutschland. Berlin? Hauptstadt.

Viktor Kewenig, 15 Jahre


Unterschiede

40 Jahre völlig unterschiedlicher Lebensbedingungen können nicht spurlos an den Menschen vorbeigehen. Ist es nicht normal, dass es da Gegensätze gibt? Wäre es nicht sogar schade, wenn vier Jahrzehnte einen gar nicht prägen würden? Nach der Vereinigung Deutschlands wurde es plötzlich zu etwas Peinlichem, über die Unterschiede von Menschen aus der BRD und der DDR zu sprechen. Ich bin gegen Klischees – aber es ist doch albern, korrekt darauf zu achten, vor Unterschieden die Augen zu verschließen. Wenn man sich weigert, über sie zu reden, setzt das voraus, dass sie etwas Schlechtes sind – und das sind sie überhaupt nicht.

Ich bin nicht wertend, ich finde nicht, dass Ost oder West besser ist. Denn darum geht es doch – nicht wertend zu sein. Verteidigt man nicht immer mit einer seltsamen Wucht die Individualität des Menschen, als würde etwas Heiliges angegriffen? Wenn man also akzeptiert, dass alle Menschen verschieden sind, dürfte es doch eigentlich auch kein Problem sein, Unterschiede von Ost und West anzuerkennen.

Wer Angst hat, dass die Deutschen mit ihren geringfügigen Differenzen kein einheitliches Volk sein könnten, kann sich damit trösten, dass wir uns immer mehr aneinander angleichen.

Julia Suris, 16 Jahre

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