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© Thilo Rückeis

Theaterprojekt: Wer nicht hören kann, muss fühlen

Yalaza, 16, ist gehörlos und Hauptdarstellerin in einem Theaterstück. Vor ihrer Familie hält sie es geheim

Martha ist 16. Von ihren Eltern wird sie geschlagen. Sie sucht nach Liebe, Freiheit und steht sich dabei ständig selbst im Weg. Wenn sie erwachsen ist, will sie: „Meine Mutter vergessen. Meinen Vater vergessen. Meine Schwester hauen. Ich will eine eigene Wohnung suchen, ich will als Erzieherin arbeiten! Und weg sein. Und nie mehr zurückmüssen.“

Martha ist die Protagonistin des Theaterstücks „Frühling erwache!“, das derzeit im Ballhaus Ost in Prenzlauer Berg läuft. Mit 14 gehörlosen oder schwerhörigen Schülern und drei hörenden Schauspielern inszeniert Michaela Caspar eine Jugendtragödie nach Motiven von Frank Wedekind und Nuran David Calis. Jede Rolle ist doppelt besetzt. Die hörende Simone Jaeger und die gehörlose Yalaza Coskun spielen Martha. Und finden sich oft in ihr wieder.

Die beiden sitzen auf einer Bank im Hinterhof des Ballhaus Ost. Immer wieder kommt jemand vorbei, Hände werden abgeklatscht. Man glaubt, ein stilles „Wie geht’s?“ und „Was macht ihr denn?“ in ihren Gesten zu verstehen. Im Rückhalt ihrer Freunde wirkt Yalaza Coskun, die ihren richtigen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen will, gelassen. Auf der Bühne dagegen könnte sie energischer kaum sein. Sie spricht in zwei Sprachen gleichzeitig. Man sieht: Ihre temperamentvollen, teils gar aggressiven Gebärden – als würden ihre Hände schreien. Man hört: Ihre Stimmgewalt. Manchmal stöhnt sie, verschluckt ein Wort.

Yalaza ist mit ihren 16 Jahren genauso alt wie Martha, die sie spielt. Ihre Familie stammt aus der Türkei, doch sie habe mit der türkischen Kultur nichts am Hut. Oder besser: am Kopftuch, denn sie trägt gar keins. „Ich sperre mich dagegen“, sagt sie. „Ich bin schließlich hier groß geworden.“ Sie ist die einzige Gehörlose in ihrer Familie. Als Yalaza kleiner war, durfte sie gebärden. Doch mit sieben Jahren bekam sie eine implantierte Hörprothese, die ihr half, besser zu hören und sprechen zu lernen. Für die Eltern bedeutete es den Wunsch nach einem „normalen“ Kind. Für Yalaza jede Menge Anstrengung. „Seitdem sagen meine Eltern ich solle mit ihnen sprechen und türkisch lernen, ich könne es schließlich.“ Eine bloße Traumvorstellung, nennt sie das. Es falle ihr dennoch schwer. Ist das Implantat aus, hört sie rein gar nichts. Manchmal würde ihre Familie etwas Verständnis zeigen, vor allem ihre Schwester probiere zu gebärden. Manchmal.

Ebenso vage steht es ums Theaterspielen. Mal erlauben es die Eltern, mal nicht. Das sei abhängig vom Thema. Szenen mit Jungs stehen ganz oben auf der Verbotsliste. Ob es für Yalaza selbst ein Problem wäre? Sie muss lachen. „Das ist doch kalter Kaffee.“ Doch davon lässt sie sich nicht beirren. Würden ihre Eltern es ihr verbieten, sie würde sich drüber hinwegsetzen. „Es ist mein Leben, meine Zukunft. Ich lass mich nicht zu einer Entscheidung zwingen.“ Gern würde sie professionelle Schauspielerin werden, ihrer Familie zeigen, wie sie auf der Bühne wirkt. Doch Yalaza hat Angst. Ob sie denkt, dass es die Familie interessiert? „Keine Ahnung.“

„Martha und Yalaza sind sehr ähnlich. Beide wollen ausbrechen“, sagt Simone Jaeger. Die 28-Jährige ist professionelle Schauspielerin, hat Yalaza oft bei den Proben begleitet. Aus Interesse lernt sie gerade die Gebärdensprache. „Mir steht es nicht zu, ihr ihre Familie auszureden. Ich kann sie nur in ihrem Selbstwertgefühl unterstützen.“ Sie kann ihre Gefühle nachvollziehen: Über die Stränge schlagen. Abhauen wollen. Nach Liebe verzehren und sich doch nur wehtun. Doch von Yalazas Durchsetzungswillen ist sie fasziniert. Sie sei unglaublich diszipliniert, pünktlich und konnte Marthas Text schon vor allen anderen. Simone erinnert sich an hunderte Übungen während ihrer Schauspielausbildung, die durch die Gebärdensprache für Gehörlose Alltag seien. Als Yalaza das erste Mal auf der Bühne stand, habe sie regelrecht mit dem Publikum gespielt. „Obwohl sie viele Reaktionen ja gar nicht hören konnte“, erzählt Simone beeindruckt.

Regisseurin Michaela Caspar erlitt vor wenigen Jahren selbst zwei Hörstürze, deshalb kann sie sich mit ihrer Hauptdarstellerin identifizieren. Sie wollte ein Stück inszenieren, dass aufzeigt, wie verschieden Hörende und Gehörlose kommunizieren. So folgte sie dem Ansatz des epischen Theaters von Bertolt Brecht: Ihm ging es darum, den Zuschauer zum Nachdenken zu bringen und sich nicht nur von der Geschichte berieseln zu lassen. Indem Michaela Caspar jede Rolle doppelt besetzt, mit einem hörenden und einem gehörlosen Schauspieler, zeigt sie den Konflikt zwischen beiden Kommunikationsweisen. Zwischen Wort und Gebärde. Simone und Yalaza stehen sich in der Rolle der Martha wie zwei Konkurrentinnen gegenüber. Auf dem Boden sind spielfeldähnlich Linien abgesteckt, auf denen die beiden sich bewegen. Yalaza drängt Simone mit dem Rücken zum Publikum. „Dann sieht mich ja keiner mehr“, beklagt die. „Dich können sie aber hören“, antwortet Yalaza.

„Frühling erwache!“ wird noch heute und morgen im Ballhaus Ost aufgeführt. Mehr Infos unter: www.possibleworld.eu

Tina Gebler

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