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Panorama: Tod meines Vaters

Mara, 26, kam gerade von einer Party, da klingelte das Telefon. Der Anrufer sagte: Es geht um Papa

Die Nacht, in der mein Vater gestorben ist, machte den Samstag zum Sonntag. Ich war 26 Jahre alt und feiern an dem Abend. Eine Studienkollegin hatte auf ihren Abschluss angestoßen, und auf dem Heimweg erzählte ich meiner Freundin Isa von meiner Vorfreude darauf, dass ich am nächsten Tag zu meinen Paps fahren würde. Bei unserem Telefonat am Vorabend hatte er mir stolz berichtet, nun hinge auch die letzte Lampe in seinem neuen Heim. Und dass er den guten Rotwein aus dem Keller geholt hatte, für unseren Abend. Mir im Gästezimmer seines Häuschens das Bett gerichtet. Eigentlich sei das ohnehin mein Zimmer, da ich von den vier Kindern am weitesten weg wohnte. Sicher würde ich deswegen häufiger über Nacht bleiben als die anderen, die bequem in ein paar Minuten daheim waren. „Klar!“, war meine Antwort, und dann hatte ich ihn in meinen Plan eingeweiht – „gerade jetzt, da ich meinen Doktor schreibe, das kann ich doch bei dir unterm Dach tun“. Und keiner bleibt allein. Dann hatten wir kurz geschwiegen, gerührt davon, wie gut und wie schön alles war. Mit ihm. Und uns Kindern. Nun, da er, 68, sich getrennt hatte.

Als das Telefon klingelte, in dieser Nacht von Samstag auf Sonntag, war ich noch wach. Am anderen Ende der Leitung erkannte ich meinen Schwager, und weil er vom Telefon meiner kleinen Schwester anrief, um diese späte Zeit, bekam ich einen furchtbaren Schreck, ihr könnte etwas passiert sein. „Nein, mit Nina ist alles o. k.! Aber dein Vater hatte einen Herzinfarkt.“ Da war ich zuerst noch erleichtert. Denn das Herz meines Vaters schlug unruhig, seit einundzwanzig Jahren. Damals hatte er seinen ersten Herzinfarkt gehabt und seitdem, mit der Regelmäßigkeit von Schaltjahren, muckte der lebensstiftende Muskel in seiner Brust immer wieder auf. Wir Kinder hatten uns auf seltsam unaufgeregte Art und Weise daran gewöhnt, weil alles andere bedeutet hätte, daran verrückt zu werden. Unser Papi strahlte einen unerschütterlichen Glauben an seine eigene Unsterblichkeit aus, und wir zweifelten diesen Glauben nicht an, sondern teilten ihn längst – und vermehrten ihn so scheinbar noch.

Nur langsam, ganz langsam begriff ich, dass diesmal alles anders war. Endgültig. Weil sich das Vaterherz nicht bloß verschlagen hatte, nicht nur aus dem Takt gekommen war – sondern Stille eingekehrt in seiner Brust. „Er ist tot, Mara!“, hörte ich meinen Schwager sagen, als ich fragte, in welchem Krankenhaus mein Vater läge. Und sah das Orange des Teppichs auf mich zukommen, im Fallen. „Das ist unfair! Unfair! So unfair!“, weinte ich, immer wieder, fassungslos. Meine Schwester, die neben ihrem Mann saß und meine Schreie hörte, gestand mir später, sie habe Angst gehabt, ich würde den Verstand verlieren, wie ich das immer selbe Wort aufschrie. Mein Verstand ist geblieben. Aber ein Teil von mir hat aufgehört zu existieren, in dieser Nacht.

Wir vier Kinder trafen uns zuerst bei der jüngsten Schwester, am ersten Tag im Leben ohne unseren Vater. Berieten uns, trösteten. Zankten auch ein wenig, darüber was wie zu lösen sei. Wir fuhren ins Beerdigungsinstitut, suchten einen Sarg aus. Ein Kissen, für seine letzte Ruhe. Formulierten den Text der Todesanzeige. Heulten einander gegenseitig in die Hemdsärmel. Bestimmten einen Anzug, in dem er beerdigt werden sollte. Wir fuhren zu seinem neuen Haus, das wir mit ihm gerade erst fertig eingerichtet hatten. Die Kleider, die er am Vorabend ausgezogen hatte, bevor er das Haus zum Tanzen verließ, lagen im Schlafzimmer. Alles sah aus, als wäre er nur kurz Brötchen holen, und das ganze Haus roch lebendig nach ihm. Daran wollten wir uns festhalten, weil wir seinen Tod nicht begriffen.

Die ersten Tage empfanden wir wie im Taumel. Die Welt um uns herum drehte sich weiter und ignorierte dabei, dass sich für uns alles verändert hatte. Wir durchlebten Beerdigung und Leichenschmaus. Dann der Abschied von den Geschwistern. Zurück in die eigene Heimat, die leere Wohnung. Wiedersehen mit Freunden. Niemand konnte etwas sagen, das tröstete. Wer mir vom Tod seiner Großeltern erzählte, davon, wie einschneidend das gewesen sei, den warf ich sofort aus meiner Wohnung. Wer mir erklärte, mein Vater hätte nicht gewollt, dass ich so leide, durfte nur zwei Minuten länger bleiben. Hatte ich alle abgewiesen und rausgeworfen, fühlte ich mich verlassen. Versuchte, mich nützlich zu machen, indem ich allen Schreibkram erledigte, den mein Vater hinterlassen hatte. Und wollte dabei doch nicht zu schnell sein, weil es schien, als verschwände er mit jedem zugeklebten Briefkuvert ein wenig endgültiger.

Alltag tat gut. Arbeiten gehen, sich auf etwas konzentrieren, was nichts mit meinem Vater zu tun hatte, nichts mit dem Sterben, der Trauer. Gleichzeitig, einen Platz zu haben, an dem ich gezwungen war, mich zusammenzureißen, weiterzumachen. Eine Kollegin erzählte, es habe zwei Jahre gedauert, bis sie nach dem Tod ihres Vaters wieder sie selbst gewesen sei. Ich konnte und wollte mir nicht vorstellen, diesen Schmerz zwei Jahre auszuhalten. Stattdessen wollte ich meinem Paps anfangs einfach hinterhersterben. Bei meinen ersten Friedhofsbesuchen legte ich mich in der Kälte der Wintermonate auf sein Grab und wünschte mir, ich könnte dort bei ihm bleiben.

Ich bekam viele traurige Geschichten zu hören in dieser Zeit. Wenn ich davon erzählte, dass mein Vater gestorben war, schien das bei Menschen, die selbst schon einen ähnlichen Verlust erlebt hatten, ein Ventil zu öffnen, und ihre Erlebnisse im Umgang mit der eigenen Trauer wurden hervorgespült. Und ich war dankbar für diesen Reflex, weil die Geschichten mich ablenkten von den eigenen Tränen, und weil ich im Trost, den ich anderen spendete, auch wieder Hoffnung für mich selbst fand. Mit der Zeit wurde mir klar, dass die, denen ich die Tür gewiesen hatte, im Recht gewesen waren, als sie sagten, mein Vater würde nicht wollen, dass ich so leide. Und: mich so gehen lasse.

„Du würdest mir gern mal in den Arsch treten, wenn du mich so siehst, oder? Damit ich zurück in die Spur komme!“, muss ich, nach einigen Monaten, am blumenübersäten Grab meines Vaters zum ersten Mal grinsen. In derselben Woche erzähle ich meiner Nichte eine Geschichte über ihren Opa, ohne dass Tränen fließen. Und gehe zum ersten Mal wieder tanzen, ohne mir dabei völlig fehl am Platz vorzukommen, oder mich schlecht zu fühlen, als ich lache über den zotigen Witz eines Freundes.

Trauern ist wie Ebbe und Flut. Und ich bin es, die in den Gezeiten schwimmt und sich mit ihnen arrangieren muss, weil ich es bin, die noch am Leben ist. So lerne ich mit der Zeit, meinen Vater loszulassen, ohne dabei Angst davor zu haben, dass ich ihn damit verliere. Langsam lässt auch die Verklärung nach, die im Moment seines Todes zuerst ganz automatisch eingesetzt hatte, und macht einem aufrichtigen Andenken Platz. Ich kann mich nun auch wieder an Streitigkeiten mit meinem Paps erinnern, ohne in Tränen auszubrechen oder ein schlechtes Gewissen zu haben. Denn ich brauche mir nicht vorzumachen, alles zwischen uns sei perfekt gewesen, weil es das nie ist. Weil auch die Beziehungen zu meinen Geschwistern, Freunden, Partnern nicht perfekt sind, und trotzdem jede für sich einzigartig und wertvoll. Dafür begreife ich, dass ich seine Tochter bleibe und er mein Vater, bis ans Ende meines Lebens, auch wenn er nicht mehr hier ist, nicht mehr so, wie wir es gewohnt waren. Das macht mir Mut, und daraus schöpfe ich neue Kraft und festen Willen.

Es stimmt, dass etwas von mir aufgehört hat zu existieren, in der Nacht als mein Paps gestorben ist. Da ist eine Wunde zurückgeblieben, die sich niemals richtig schließen wird. Und manchmal, wenn das Wetter umschlägt, ziept sie besonders, im Vermissen. Doch gleich daneben ist auch etwas Neues entstanden. Eine Kraft, aus der Liebe, die er zurückgelassen hat. Und das Wissen darum, dass zwar nicht alles gut wird, es aber immer weiter geht, wenn man sich nur traut.

Mara Braun

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